Was in Deutschland kaum jemanden interessiert: So kann man die hohe Zahl der Selbstmorde bei Männern halbieren
Im Overton-Magazin beschäftigt sich der Psychologe Professor Stephan Schleim, der vor Jahren schon männerfreundliche Beiträge auf Telepolis veröffentlichte, mit der hohen Selbstmordrate von Männern. Der Artikel ist eigentlich in Gänze lesenswert, und ich muss bei diesem auszugsweisen Zitat einige wichtige Aspekte weglassen:
Am 10. September jährte sich wieder der Jahrestag zur Prävention von Suizid. Die Berichterstattung hat mich vielfach erstaunt: Während Geschlechtsunterschiede von nur 10 oder 5 Prozent oft die Medien füllen, wurde der in vielen „entwickelten“ Ländern 200- bis 300-prozentige Geschlechtsunterschied bei den Suiziden gar nicht thematisiert. Auch die offizielle Informationsseite der WHO erwähnt ihn mit keinem Wort. Und das, obwohl sich Männer in vielen Ländern zwei- bis viermal so oft das Leben nehmen – oder sogar öfter.
(…) Neben Männern allgemein gibt es einige, doch kleinere Gruppen mit einem höheren Suizidrisiko: nämlich Flüchtlinge und Migranten, Angehörige der LGTBI+ Community und Gefangene. Als Gründe für einen Suizid hebt die WHO impulsive Handlungen im Zusammenhang mit stressvollen Lebensereignissen hervor, so wie finanzielle Not, Beziehungsprobleme, chronische Schmerzen und Krankheit.
(…) Warum sterben aber so viel mehr Männer durch Suizid, obwohl Frauen häufiger einen Suizid versuchen? Letztere wählen meist weniger tödliche Methoden und werden gerettet. Demgegenüber wählen Männer eher tödlichere Methoden; im Internet kursieren sogar Listen für besonders "männliche" (gemeint ist: tödliche) Verfahren.
Studien zu Geschlechtsstereotypen legen nahe, dass Männer sich mehr dafür schämen, einen Suizidversuch zu überleben. Es gilt auch als männlich, seine Probleme selbst zu lösen und sich nicht helfen zu lassen.
Frauen tendieren eher dazu, psychosoziale Probleme zu internalisieren, also die Schuld bei sich zu suchen; sie haben häufiger Angststörungen und Depressionen. Männer externalisieren Probleme eher, sie reagieren häufiger mit Risikoverhalten, starkem Drogenkonsum und/oder mit Gewalt.
Dass sich diese Gewalt – vor allem schwere Gewalt – am häufigsten gegen andere Männer richtet, wird in den Medien auch kaum berichtet. Mir wurde schon mit Klagen gedroht, wenn ich diese Tatsache aus den Kriminalstatistiken kommunizierte. (Ich habe meine Aussagen nicht zurückgenommen und wurde nicht verklagt.)
Männer sind nicht nur bei den Suiziden, sondern auch bei Schulabbrüchen, schlechteren Bildungsabschlüssen, Obdachlosigkeit und in Gefängnissen überrepräsentiert, teils sehr stark überrepräsentiert. In so gut wie allen Ländern sterben sie Jahre früher. Wenn sie sich beschweren, werden sie schnell als "Wutmänner" verhöhnt; ziehen sie sich zurück, macht man sich über sie als "unfreiwillige Zölibatäre" (Incels) lustig.
(…) Ich kann es nicht beweisen, aber hege nach 20 Jahren Forschung im Bereich von Psychologie, Soziologie und Neurowissenschaften die Vermutung, dass wir weniger Polarisierung und Radikalisierung in der Gesellschaft hätten, wenn es mehr positive Männlichkeitsbilder gäbe und mehr Hilfsangebote für sie. In den Medien dominieren Darstellungen von Männern in Machtpositionen oder als Kriminelle.
Professor Schleim beendet seinen Beitrag mit einem bewährten Fünf-Punkte-Plan aus der klinischen Psychologie, falls man sich mit Selbstmordgedanken quält:
1. Gib dir ein Versprechen, dir jetzt nichts anzutun: Nimm dir vor zu warten, auch wenn du gerade starke emotionale Schmerzen erfährst. Schaffe so zeitlichen Abstand zwischen den Suizidgedanken und möglichen Handlungen. Die Unterstützung von anderen kann dir dabei helfen. Suizidgedanken hängen oft mit psychischen, persönlichen oder sozialen Problemen zusammen, die sich behandeln lassen oder die von selbst wieder vorbeigehen. Wahrscheinlich wird es dir wieder besser gehen, wenn an diesen Problemen gearbeitet wird.
2. Vermeide Alkohol und andere Drogen: Psychoaktive Substanzen können deine Urteilsfähigkeit einschränken oder dich zu impulsiven Handlungen verleiten. Sie könnten auch die Suizidgedanken verstärken.
3. Sichere deine Umgebung oder begebe dich in eine sichere Umgebung: Vermeide nach Möglichkeit, allein zu sein oder an Dinge zu denken, durch die du dich schlechter fühlst. Entferne Gegenstände, mit denen du dich verletzen könntest.
4. Es gibt immer Hoffnung – Menschen, die Schlimmes erleben, geht es im Lauf der Zeit oft wieder besser: Extremer emotionaler Stress schränkt unsere Fähigkeit ein, Problemlösungen zu sehen. Mit Hilfe geht es einem oft wieder besser. Es gibt Menschen, die dir zuhören und Verständnis entgegenbringen, zum Beispiel bei der Telefonseelsorge (0800 111 0 111) oder Nummer gegen Kummer (116 111). Im Notfall kannst du auch den Notruf wählen.
5. Behalte deine suizidalen Gefühle nicht für dich: Auch wenn das schwierig sein kann, ist es wichtig, dass du deine Gedanken, Gefühle und möglichen Pläne mit anderen teilst. Vielleicht hast du schon eine Vertrauensperson – zum Beispiel einen Freund, ein Familienmitglied, einen Therapeuten oder jemanden in der Seelsorge. Ein Gespräch mit einer erfahrenen Person kann dir helfen. Wahrscheinlich kannst du deine Situation dann in einem anderen Licht sehen und auf Ideen kommen, wie du deine Probleme bewältigst. So ein Gespräch kann zur Einsicht führen, dass deine Situation vorübergehend ist und wieder besser werden wird.
Das mögen auf persönlicher Ebene hilfreiche Ratchläge sein – aber was kann auf gesellschaftlicher Ebene getan werden? Diese Frage ist abstrakt, weil sich deutsche Politiker und Journalisten ohnehin nicht dafür interessieren – Feministinnen bezeichnen diese Gleichgültigkeit gegenüber dem Massensterben von Männern gerne als "Patriarchat". Aber wir verrückten Männerrechtler tanzen wieder aus der Reihe und beschäftigen uns trotzdem mit solchen Fragen. In den vergangenen Wochen hat der Washingtoner Therapeut Tom Golden einen Dreiteiler veröffentlicht, wie Finnland das Problem der hohen Suizidrate anging, statt lediglich zu argumentieren, dass "Männer einfach keine Hilfe suchen". Die drei Teile findet man hier, hier und hier. Das alles ist auch für ein Zitat im Volltext auf Genderama, so wie ich das sonst gerne mache, zu umfangreich, zumal Golden irritierenderweise bereits dargelegte Dinge gerne mal wiederholt. Aber ich kann den Inhalt seiner Beiträge zusammenfassen:
In den 1980er Jahren hatte Finnland eine der höchsten Suizidraten in Europa, insbesondere bei mittelalten, ländlichen und isolierten Männern. Das Land führte daraufhin die Studie "Suicides in Finland 1987" durch, die jeden der etwa 1.400 Suizidfälle detailliert analysierte (durch psychologische Autopsien, Interviews mit Angehörigen und Aktenprüfungen). Dies identifizierte Risikogruppen wie Männer im ländlichen Raum, Jäger, Wehrpflichtige und Alkoholabhängige. Daraus entstand das nationale Suizidpräventionsprogramm (1992–1996), das eine 20-prozentige Reduktion innerhalb von zehn Jahren anstrebte. Es involvierte Schulen, Militär, Kirchen, Medien und lokale Vereine. Beispiele für Interventionen:
Das Programm "Hyvä Mehtäkaveri" (Guter Jagdkamerad) schulte Jäger, auf die mentale Gesundheit ihrer Kollegen zu achten.
Für abgelehnte Wehrpflichtige gab es das Projekt "Young Man, Seize the Day" mit beruflicher Beratung.
Die A-Clinic-Foundation integrierte Suchtbehandlung in die Prävention.
Lehrer und Geistliche wurden geschult, Warnsignale zu erkennen, und Krankenhäuser verbesserten die Nachsorge für Suizidversuche.
Journalisten schrieben verantwortungsvoller über dieses Thema.
Innovationen wie "Open Dialogue", ein community-basiertes psychiatrisches Modell in Westfinnland, reduzierte Hospitalisierungen und Suizidrisiken bei Psychose-Patienten.
Bis Mitte der 1990er Jahre sank die Suizidrate um 20 Prozent. Die Rate bei Männern fiel von 52,6 pro 100.000 Einwohner (1990) auf 20,3 pro 100.000 (2023) – eine Reduktion um 61 %. Die Selbstmordrate unter Männern war mehr als halbiert worden. Dies beeinflusste auch andere nordische Länder.
Diese nordische Welle machte die Suizidprävention von einer Randerscheinung zu einem zentralen politischen Ziel. Die Bereitschaft Finnlands, Suizid zu einem vermeidbaren Problem der öffentlichen Gesundheit zu erklären, gab anderen Ländern den Mut, dasselbe zu tun.
(…) In Finnland wurde Selbstmord als nationaler Notfall behandelt. Die Regierung sammelte Daten zu jedem Fall, identifizierte Risikogruppen und entwickelte dann Maßnahmen, die die Menschen dort abholten, wo sie sich aufhielten – in Jagdvereinen, Kasernen, Schulen und Dorfkirchen. Prävention wurde zur Aufgabe aller: Lehrer, Geistliche, Journalisten und sogar Jäger wurden mobilisiert. Männer wurden nicht ignoriert, sondern als Priorität genannt.
(…) Die Lehren daraus sind klar:
1. Recherchieren Sie. Prävention beginnt damit, zu wissen, wer wo und warum stirbt. Die psychologische Autopsiestudie Finnlands ist nach wie vor der Goldstandard für das Verständnis von Selbstmord im Kontext.
2. Maßgeschneiderte Interventionen. Allgemeine Slogans retten keine Leben. Finnland hat spezifische Maßnahmen für Jäger, Soldaten, Landwirte, Alkoholiker und Selbstmordversucher entwickelt.
3. Beziehen Sie ganze Gemeinschaften mit ein. Suizidprävention ist nicht nur Aufgabe von Psychiatern. Lehrer, Geistliche, Journalisten, Kollegen und Gleichaltrige können ebenfalls eine Rolle spielen.
4. Sprechen Sie Männer direkt an. Selbstmord bei Männern ist kein Nebengedanke, sondern ein zentrales Thema. Finnland hat es gewagt, dies auszusprechen, und Maßnahmen speziell für Männer entwickelt.
5. Setzen Sie Ihre Bemühungen fort. Kurzfristige Projekte können Veränderungen anstoßen, aber langfristige Strukturen verankern sie. Das ist nach wie vor eine der unvollendeten Aufgaben Finnlands – und eine der wichtigsten Lektionen für andere.
Für (…) jedes Land, das noch immer die Hände ringt, weil "Männer keine Hilfe suchen" bietet Finnland einen Entwurf. Man wartet nicht darauf, dass Männer zu einem kommen. Man geht zu ihnen. An ihren Arbeitsplatz, in ihre Vereine, ihre Kasernen, ihre Gemeinden. Man macht Prävention zu einem Teil des Alltags.
Finnlands Vermächtnis, führt Tom Golden abschließend aus, "ist eine Herausforderung für uns alle: Wenn ein kleines Land am Rande Europas das schaffen konnte, welche Ausrede haben wir dann, es nicht zu versuchen?"