Freitag, September 18, 2020

Claudia Roth: "Maskulinisten und Retromänner formieren sich" – News vom 18. September 2020

1.
"Maskulinisten" und "Retromänner" formierten sich neu, sagte Roth, und wollten sich zurückholen, "was ihnen gar nicht gehört: Macht, Einfluss, das Sagen".


Das berichtet aktuell Spiegel-Online. In dem Artikel heißt es weiter:

Besonders der Einzug der AfD in den Bundestag habe den Umgang verändert. Wenn eine der beiden Frauen eine Sitzung leite, würden manche AfD-Redner das Präsidium nicht grüßen. "Dabei ist das seit 70 Jahren Brauch im Plenum", so Roth. Die Abgeordneten fingen dann einfach an zu reden - andere sagten explizit zur Begrüßung "Präsident"'.

(…) Rückblickend beurteilt Roth die Zeit vor der Vertretung der AfD im Parlament als deutlich anders. "Es kommt mir so vor, als wären wir bis dahin in Watte gepackt gewesen", sagte die Grünenpolitikerin der "Zeit". Nun hätten Sexismus und Antifeminismus eine Bühne im Bundestag. Das wirke sich auch enthemmend auf die Gesellschaft aus.


~ Gut, dass es eine Partei wie die Grünen gibt, die für Sitte, Anstand sowie Respekt vor der Obrigkeit und 70 Jahre alten Traditionen sorgt. Unter diesem Motto waren die Grünen 1983 in den Bundestag eingezogen und wegen ihres Wohlverhaltens sofort bei allen etablierten Parteien beliebt. Claudia Roth sorgte als Managerin der Rockband "Ton, Steine, Scherben" ("Macht kaputt, was euch kaputtmacht") besonders engagiert dafür, dass Disziplin, Ordnung und Zucht noch von Bedeutung waren. ~

Ernsthaft: Ich kann mich ja vielen Kritikpunkten an der AfD anschließen. Aber ausgerechnet "Manche von denen grüßen das Präsidium nicht"? Und was bitte hat Maskulismus mit angeblich schlechten Umgangsformen zu tun? Ich wettere doch auch nicht über den Kommunismus, wenn mich mein Nachbar nicht grüßt.



2. Einer meiner Leser macht mich auf einen Artikel im sozialistischen Magazin Jacobin aufmerksam. Dort heißt es:

Wenn auch der Begriff "Geschlechterpolitik" zunächst an feministische Kämpfe denken lässt, so sind in jüngerer Zeit vor allem Gegenbewegungen wie der Anti-Feminismus, der Anti-Genderismus oder auch der Maskulismus als eigenständige Formen der Geschlechterpolitik sichtbar geworden.

(…) Nachdem die Frauenbewegung und der Feminismus die Geschlechterpolitik erfolgreich auf die politische Agenda gesetzt haben, verliert der Feminismus nun zunehmend die dominante Rolle innerhalb der Gesamtheit geschlechtspolitischer Forderungen. Dem Bedeutungsanstieg von Geschlechterpolitik als solche folgte dabei nicht automatisch ein Ausbau emanzipatorischer Errungenschaften, sondern vielmehr die Fragmentierung des Spektrums der Positionen und Bewegungen.


Der Artikel betrachtet vor allem, wie der Feminismus durch seine Verknüpfung mit dem Neoliberalismus eine wachsende Angriffsfläche für Kritik bietet. Mein Leser merkt zu dem Beitrag an:

Zwar wird der linke Maskulismus praktisch ignoriert, aber ich finde es bemerkenswert, dass Maskulismus hier von linker Seite nicht mehr pauschal verteufelt wird. Die Einordnung des Maskulismus ist etwas differenzierter als üblich. Die Interpretation als "Widerstand gegen den progressiven Neoliberalismus" finde ich sogar recht treffend, auch wenn sie natürlich nicht erschöpfend ist.




3. Verschiedene Medien berichten über eine Aufarbeitung der Diskriminierung schwuler Soldaten:

Lange Jahre galt: Homosexuelle können in der Bundeswehr keine Karriere machen. Wer als schwul enttarnt wird, muss die Truppe verlassen. Eine Studie arbeitet diese Praxis, die erst 2000 endete, jetzt auf. Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer bittet Betroffene nun stellvertretend um Entschuldigung.


Hier geht es weiter.

Zu dieser Meldung gibt es einen maskulistischen Kommentar auf Twitter:

Und wann bittet #AKK um Entschuldigung dafür, daß die Bundeswehr über 50 Jahre lang Millionen von jungen Männern durch den Raub von zwischen 6 und 18 Monaten ihres Lebens sexistisch diskriminiert hat?

Oh nein, diese Zwangsarbeit würde sie ja am liebsten wieder einführen …




4. Ebenfalls auf Twiter hat Lutz Bierend einen TV-Tipp:

Während es bei #Neflix' "Criminial" sonst darum geht wie Schuldige im Verhör überführt werden, gibt es diesmal tatsächlich eine Folge über Vergewaltigung, die sich damit beschäftigt was #Falschbeschuldigung mit dem angeklagten Mann macht.


(Gemeint ist offenbar die zweite Folge der zweiten Staffel von "Criminal UK", nicht von "Criminal Deutschland".)

[Nachtrag um 13:15 Uhr: Ich habe die Folge gerade gesehen; sie ist wirklich gelungen.]



5. Unter der Überschrift "Love Hurts" plädiert die Publizistin Kat Rosenfield dafür, mit der Infantilisierung von Frauen und Dämonisierung von Männern aufzuhören:

Wenn Sie jemals einen Liebesroman aus der Regency-Epoche gelesen oder eine Jane-Austen-Adaption gesehen haben, haben Sie wahrscheinlich eine flüchtige Bekanntschaft mit dem Motiv der ruinierten Frau gemacht: dieses tragische Opfer eines schurkischen Mannes, der sie liebte, sie verließ und ihren gesellschaftlichen Wiederverkaufswert dabei ruinierte. In einer Welt, die von einem patriarchalischen Ehe- und Erbschaftssystem regiert wird, das auf weibliche Reinheit angewiesen ist, um sicherzustellen, dass alle männlichen Nachkommen legitim sind, war die ruinierte Frau buchstäblich beschädigte Ware. Selbst der geringste Hauch einer vorehelichen Tändelei könnte ihr zum Verhängnis werden.

Diese altmodischen Vorstellungen über den Wert von Frauen haben uns nie ganz verlassen und tauchten im Laufe der Jahre in allen Bereichen wieder auf, von den Werken Andrea Dworkins bis zu den Abstinenzkriegen der späten 1990er Jahre. Da Mitgift nicht im Spiel war, hing die Idee, dass Sex Frauen entwertete, stattdessen an Amerikas plötzlicher Besessenheit von Selbstwertgefühl. Eine junge Frau, die Sex hatte, insbesondere Gelegenheitssex, respektierte sich eindeutig nicht selbst. Sie versuchte, eine emotionale Leere mit billigen körperlichen Beziehungen zu füllen, und - ja - sie machte sich selbst unverheiratbar. Man sagte uns, dass ein Mann die Kuh nicht kaufen würde, wenn er die Milch umsonst bekäme.

Heute hat sich die Vorstellung, dass sexueller Kontakt für Frauen erniedrigend ist, in der zeitgenössischen progressiven Sprache des Traumas und der Zustimmung verwickelt. Der fragliche Schaden ist emotional, nicht materiell, aber die paternalistische Botschaft ist dieselbe: Unschuldige Frauen müssen geschützt werden.

Zustimmung ist sexy, so sagt man uns, da uns die Broschüren zur Sexualerziehung in erster Linie das Wesentliche der Gespräche während des Geschlechtsverkehrs vermitteln: "Gefällt es dir, wenn ich dich dort berühre? Was genau soll ich mit dir machen?" Es spielt keine Rolle, dass die besagte Literatur geflissentlich die Tatsache ignoriert, dass für die jungen, unerfahrenen Menschen, an die solche Anweisungen gerichtet sind, Dirty Talk durch ein Verwaltungsmandat nur eine ganz neue Ebene des Drucks zu einer bereits unangenehmen Situation hinzufügt: So sehr auch beschworen wird, wie heiß Zustimmung sein kann, ist der progressive Diskurs über Sex ausgesprochen unsexy. Inmitten der Machtbesessenheit, der Unterdrückung und der ständig drohenden Gefahr einer Schädigung verschwindet der Begriff des Begehrens (oder, Gott bewahre, des Spaßes) fast völlig. Selbst im pornografischsten Konsens-ist-sexy-Skript geht es um die Minderung von Risiko, nicht um erotischen Kitzel, um Versicherungsformulare, die schwer atmend überreicht werden.

Dieser Laser-Fokus auf die Zustimmung stellt Sex an sich als eine gefährliche Handlung dar, die mit äußerster Vorsicht und nur dann vorgenommen werden sollte, wenn sie absolut notwendig ist. Und wenn es in Beziehungen hauptsächlich um Macht und die Drohung von Missbrauch geht, müssen diejenigen, die sie zu enthusiastisch verfolgen, mit Misstrauen betrachtet werden. Hier tauchen noch mehr Geschlechterstereotypen der alten Schule auf: Männer werden zunehmend fast standardmäßig als Raubtiere angesehen, während Frauen als hilflos, ja sogar als infantil angesehen werden. (Erleben Sie den Aufstieg des Wortes "Grooming", das früher dem sexuellen Raubbau an Kindern vorbehalten war, als etwas, das Frauen in ihren Zwanzigern angetan wurde). Während eine atemberaubende Bandbreite enttäuschender männlicher Verhaltensweisen unter den Schirm von MeToo gefegt wird, ist die Grenze zwischen dem hartnäckigen Interesse an einer Frau und ihrer Ausbeutung verschwommen.

(…) Diese Vorstellung von Zustimmung als Schutz vor heftigen Gefühlen ist sowohl neu als auch kontraintuitiv: In den meisten Kontexten (z.B. bei medizinischen Studien oder Medieninterviews) wird die Zustimmung gerade deshalb eingeholt, weil das, was folgt, nicht vorhersehbar ist und sehr wohl unangenehm sein kann. In bestimmten progressiven Räumen wird jedoch jede Art von Unbehagen als Hinweis auf das Fehlen der Zustimmung gewertet, was unzählige normale menschliche Interaktionen verdächtig macht. Jemandem einen Korb zu geben ist unangenehm, aber jemanden um ein Date zu bitten auch. Selbst in glücklichen Beziehungen gibt es Momente des Unbehagens, der Enttäuschung, des Konflikts - und selbst freundschaftliche Trennungen sind selten schmerzfrei. Dennoch wird jungen Menschen heute beigebracht, jederzeit absolute emotionale Sicherheit bei Sex, Liebe und Liebeswerben zu erwarten - und dass, wenn sie sich verletzt, enttäuscht oder betrogen fühlen, dies bedeutet, dass sie vergewaltigt worden sind.

Wie sind wir also hierher gekommen? Die Sozialkonservativen sagen, dass die Kultur unverbindlicher sexueller Kontakte schuld sei, und sie haben nicht Unrecht: Traditionelles Werben, Monogamie und Ehe haben ihre Schattenseiten, aber sie geben den Beziehungen ein gewisses Maß an Struktur und Sicherheit. Im Zeitalter von Tinder sind diese Sicherheitsvorkehrungen vergleichsweise schwer zu erreichen - und die ausgeklügelte (und manchmal lächerliche) Bürokratie der Einwilligungsbestimmungen kann am besten als verzweifelter Versuch verstanden werden, diesem wilden Westen von Sex und Intimität, an dessen Spitze Menschen stehen, die Angst haben, verletzlich zu sein oder verletzt zu werden, eine gewisse Ordnung aufzuzwingen. Man hat das Gefühl, dass Beziehungen unfehlbar sicher und bequem gemacht werden könnten, dass Enttäuschung und Peinlichkeit nicht existieren würden, wenn wir nur genug Regeln hätten.

Beziehungen waren schon immer ein riskantes Unterfangen, aber ironischerweise hat diese Hyperwachsamkeit sie geradezu erschreckend erscheinen lassen. Jede neue Romanze wird wie eine Schnitzeljagd auf Alarmsignale behandelt, die vor Missbrauch warnen, und jede Trennung unterliegt der Beurteilung durch den #MeToo-Rahmen. Unglückliche Ex-Partner streuen ihre Klagen in sozialen Medien auf eine Weise, die früher geschiedenen Prominenten vorbehalten war, die um die Sympathie der Presse ringen. Private Angelegenheiten werden für öffentliche Abrechnungen und Wiedergutmachungen ins Rampenlicht gerückt. Männer, die bereits unter dem Druck stehen, den ersten Schritt zu tun, müssen mit dem zusätzlichen Risiko rechnen, dass eine unbeholfene Ouvertüre oder ein falsch verstandenes Signal nicht nur zu Ablehnung, sondern auch zu öffentlicher Demütigung und Ruinierung führt. Trotz all seiner wertvollen Beiträge zur Bekämpfung der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz hat #MeToo auch die Verabredung selbst gleichzeitig spannender und unattraktiver gemacht - für alle. Wenn jede Beziehung ein Machtkampf ist, in dem die weniger privilegierte Partei ständig Gefahr läuft, zum Opfer zu werden, warum sollte man sich dann überhaupt bemühen? Wer könnte daran Freude haben?

Damit soll keine Rückkehr zu den starren Werbenormen der Regency-Epoche gefordert werden - auch nicht zu der engstirnigen Sex-Positivität der frühen Nullerjahre. Stattdessen müssen wir grundlegende Vorstellungen von weiblichem Empowerment und individueller Handlungsfähigkeit wieder einführen und das oberflächliche Verständnis komplexer zwischenmenschlicher Beziehungen als Machtkämpfe zwischen Unterdrückten und Unterdrückern zurückdrängen. Wir sollten sowohl jungen Männern als auch jungen Frauen beibringen, die Verletzlichkeit und Menschlichkeit des jeweils anderen anzuerkennen - auch wenn ein Partner in gewisser Hinsicht mehr Macht haben mag als der andere - und sich auf ihre Liebhabern als Individuen und nicht als Vertreter einer Identitätsgruppe einzulassen. Und wir sollten junge Menschen auch beibringen, Unannehmlichkeiten zu tolerieren und zu verarbeiten, anstatt sich selbst als hilflos der Machtdynamik ausgeliefert zu sehen, die sie für immer am Abgrund des Opferdaseins taumeln lässt.

Als ich zwischen 2009 und 2019 eine Kolumne mit Ratschlägen für Jugendliche schrieb, gab es eine Frage, die ich öfter als jede andere erhielt: "Wie kann ich mich verlieben, ohne verletzt zu werden?" Meine Antwort war immer dieselbe: "Das kannst du nicht! Intimität erfordert Verwundbarkeit; die Freude an der menschlichen Verbindung geht immer mit dem Risiko einher, verletzt zu werden." Aber dieses Risiko ist für alle gleich, egal wie privilegiert oder mit institutioneller Macht gesegnet sie sind. Selbst der wohlhabendste, weißeste, cisheterosexuellste Kerl der Welt kann durch Herzschmerz absolut vernichtet werden - und selbst eine Person, die am Schnittpunkt mehrerer unterdrückter Identitätskategorien sitzt, hat die Macht, jemandem das Herz zu brechen.

So sehr Trauma und Missbrauch Reinheit und Heiratsfähigkeit in der Landschaft der moralischen Panik ersetzt haben, so sehr ist die gleiche alte Angst am Werk: dass die Wünsche der Frauen, wenn sie ungehemmt bleiben, sie in Trümmern zurücklassen werden. Und obwohl der Impuls, junge Menschen vor emotionalen Schmerzen zu schützen, gut gemeint sein mag, sind die Folgen toxisch. Die zwanghafte Fokussierung auf Macht als Antriebsmechanismus in allen Beziehungen schürt einen Kreislauf katastrophalen Denkens: Frauen haben immer mehr Angst davor, misshandelt zu werden, sind immer mehr von ihrer Machtlosigkeit überzeugt, dies zu vermeiden, und immer sicherer, dass sie, wenn es passiert, nicht in der Lage sein werden, damit umzugehen. Und die ganze Zeit über werden Männer, die durch einen Rahmen entmenschlicht werden, der ihre Begierden als von Natur aus räuberisch erscheinen lässt, gelehrt, den Frauen zu misstrauen und sie unter dem Vorwand, sie zu respektieren, zu Kleinkindern zu machen.

Wir müssen das Gespenst der ruinierten Frau dauerhaft aus unserem Verständnis heterosexueller Beziehungen verbannen. Eine gesunde, sex-positive Gesellschaft erkennt an, dass Unvorhersehbarkeit ein Merkmal von Verabredungen ist, kein Fehler, und dass sie nicht stillschweigend abgeschafft werden kann - insbesondere für unerfahrene Menschen, vor allem wenn es um Gelegenheitssex geht. Jungen Menschen muss beigebracht werden, freundlich und gewissenhaft miteinander umzugehen, Grenzen zu respektieren und in zweideutigen Situationen auf der Seite der Vorsicht zu irren - aber man sollte ihnen auch beibringen, dass Liebe und Sex voller schmerzhafter Missverständnisse sind und dass selbst wohlmeinende Menschen einander verletzen können, weil sie unsicher sind, verwirrt oder wirklich unsicher, was sie eigentlich wollen. Anstatt zu versuchen, sie davon abzuhalten, jemals Herzschmerz, Bedauern oder Scham zu empfinden, sollten wir ihnen beibringen, dass man diese Dinge immer überleben kann und sie manchmal sogar nützlich sind. Bringen wir ihnen bei, mit Ablehnung gnädig und mit Fehlern wohlwollend umzugehen, zumal sie wissen, dass sie selbst Fehler machen werden; bringen wir ihnen bei, dass sich verletzt zu fühlen nicht immer dasselbe ist wie Unrecht zu erleiden. Bringen wir ihnen bei, dass Liebe unordentlich ist und dass sie sich einfachen Erzählungen über Macht und Opfer-Sein widersetzt, dass sie es aber auch wert ist, mutig zu sein - denn dieselbe Ungewissheit, die die Liebe beängstigend macht, macht sie auch bereichernd, aufregend und zu einer außergewöhnlichen Quelle der Freude.




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