Mittwoch, März 22, 2023

Anmerkungen zur Mädchengewalt

Im Januar hatten zwei 13-jährige Mädchen eine 14-Jährige in einem Bahnhof in Baden-Württemberg krankenhausreif geschlagen. Vor ein paar Wochen war Deutschland fassungslos, dass es sich bei den mutmaßlichen Mörderinnen der 13-jährigen Luise aus Freudenberg um zwei Mitschülerinnen handelte. Nun wird ein weiterer Fall von Gewalt unter Mädchen bekannt:

Eine Gruppe von 14- bis 17-Jährigen soll im schleswig-holsteinischen Heide eine 13-Jährige gequält haben. Das berichtet die "Schleswig-Holsteinische Zeitung" unter Berufung auf ein Video, das die Tortur zeigen soll.

Demnach soll die Gruppe aus etwa zwölf Mädchen das Mädchen über Stunden gequält haben. In dem Video ist demnach zu sehen, wie die Gruppe etwa Zigarettenasche auf den Kopf der 13-Jährigen schnippt oder Cola über ihrem Kopf ausgegossen wird.

Als das Mädchen aufstehen will, brüllt eine der Angreiferinnen: "Bleib sitzen, während du mich anflehst. Ich lass dich nicht so einfach gehen", heißt es in dem Bericht weiter. Auch Schläge muss das Mädchen erleiden, während es unter Tränen darum bittet, ihre Nase zu verschonen. Mehrfach wird sie geschlagen - auch auf die Nase.

Die Mutter des Mädchen erzählt der Zeitung, das Video zeige nur einen Ausschnitt der Tortur ihrer Tochter. Zigaretten seien auf ihrer Wange ausgedrückt, ihre Haare angezündet worden.


Allerdings ist Mädchengewalt kein derart neues Phänomen, wie es aktuell erscheint. Es war lediglich ein Tabuthema in den Medien. So hatte ich bereits vor über zwanzig Jahren in meinem Buch "Sind Frauen bessere Menschen?" über die Zunahme von Mädchengewalt folgendes berichtet (Quellenangaben zu den Originaltexten im Buch):

Irgendetwas müsse schiefgegangen sein im Prozess der Emanzipation, rätseln Sozialpädagogen: "Die Mädchen übertreffen mittlerweile die Brutalität der Jungen: Ihren Schlägen folgen oft Folter und sexuelle Demütigung, sogar der Tod eines Opfers wird billigend in Kauf genommen." Eine von dem Berliner Streetworker-Verein "Gangway" analysierte Kriminalstatistik lässt erkennen, dass die Zahl der von 8- bis 14-Jährigen Mädchen in Berlin verübten Straftaten seit Ende der Achtziger auf das Dreifache hochgeschnellt ist. Irrationale Grausamkeit, die in keinem Verhältnis zum Anlass steht, beobachten Jugendbeauftragte der Polizei in allen Schichten: Mädchenhände verbrennen Haut mit Zigaretten, zertrümmern Nasen und brechen Rippen. Weibliche Teenager erpressen Geld und Kleidungsstücke, was sie oft als "gerechte Strafe" für einen schiefen Blick oder die Beleidigung eines Familienmitglieds empfinden. Immer häufiger werden Mädchen im Schulhof von einer Gruppe gewalttätiger Mitschülerinnen zusammengeschlagen, wobei auch hier wieder das Prinzip des Schutzes durch Indirektheit gilt: Im Unterschied zu Jungen delegieren Mädchen Bestrafungen an andere Schläger und Schlägerinnen, so dass sie selbst im Hintergrund bleiben können.

(…) Seit Anfang der neunziger Jähre ist die Jugendkriminalität in den USA zwar insgesamt auf dem Rückgang, aber das liegt allein an den Jungen: Die Zahl der von Mädchen begangenen Delikte stieg um noch einmal 85 Prozent. Viele Experten glauben übrigens, dass diese Zahl schon immer so hoch war, die entsprechenden Vergehen aber früher beiseite gewischt oder höchstens von Sozialarbeitern statt von Staatsanwälten und Richtern zur Kenntnis genommen wurden. In den USA sind die jungen Frauen bereits für etwas weniger als ein Drittel aller Körperverletzungen in ihrer Altersgruppe verantwortlich. In einer von der Soziologin Sibylle Artz veranstalteten Umfrage sagten 20,9 Prozent der befragten Studentinnen aus, dass sie im Verlauf des vergangenen Jahres jemanden anderes ein- oder zweimal zusammengeschlagen hatten.

(…) Besonders krass wird das Bild, wenn man sich auf die Großstädte der USA konzentriert. Dort sind die Mädchengangs von denen der Jungen inzwischen so gut wie ununterscheidbar. "Alle entsprechenden Elemente waren vorhanden: der Anspruch auf das Gangrevier, Drohung und Gegendrohung, Waghalsigkeit und der Stolz, den Gegner so geängstigt zu haben, dass er sich unterwarf." Die Polizeioffizierin Holly Perez aus Los Angeles berichtet sogar, dass die Mädchen in ihrer Gewalttätigkeit die Jungen noch in den Schatten stellen: Sie begehen brutalere Verbrechen wie Entführungen, Messerstechereien oder das Abknallen von Opfern, um sich den heißesten Modefummel leisten zu können. Die neuste Technik ist jacking: Die jungen Frauen halten teure Autos an, erschießen oder erstechen ihre Besitzer und verkaufen dann die Einzelteile des erbeuteten Wagens. Zu den beliebtesten Waffen bei Straßenkämpfen gehört der boxcutter., eine rasiermesserscharfe Klinge, die üblicherweise zum Aufschneiden von Paketen benutzt wird, aber auch ideal dazu geeignet ist, der Gegnerin die Wangen aufzuschlitzen. Brutalität gehört zum Image, wie ein Mitglied der Turban Queens berichtet: "Ich bin froh, dass ich einen Ruf habe. So legt sich keiner mit mir an, weißt du. Keiner verarscht mich." In New York City begingen 1994 Mädchen ein Drittel aller gewaltsamen Übergriffe auf Lehrer. 1991 gab es dort Festnahmen aufgrund von mehr als tausend Vergehen. In Los Angeles sind mehr als zehntausend weibliche Gangmitglieder aktiv. Die Palette ihrer kriminellen Geschäfte umfasst Vandalismus, Drogenhandel, Schutzgelderpressung, Schlägereien, Raub, Vergewaltigung und Mord.

Die US-amerikanische Journalistin Gini Sikes verbrachte ein Jahr mit verschiedenen Girl-Gangs ihres Landes. Sie berichtet von der neunzehnjährigen TJ, die halbtags Kinderbücher illustriert und nachts als Mann verkleidet in Häuser einbricht und Autos knackt. TJ nennt als einzigen Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Gangmitgliedern, dass die Mädchen planvoller vorgingen. Beim Kämpfen spiele die mangelnde Körpermasse der Frauen keine Rolle, da sie darauf trainiert seien, den schwachen Punkt des Gegners zu erwischen: "Dein Gesicht. Deinen Hals. Deine Augen, so dass wir dich blind machen können." Sikes berichtet davon, wie Mädchen eine Geschlechtsgenossin mit einem Lockenstab vergewaltigen oder wie sich zwei im neunten Monat schwangere Frauen das Blut aus dem Körper prügelten (beide verloren ihre Babys). Eine der Aufnahmeprüfungen in eine solche Gang ist eine neue Form russischen Roulettes: Geschlechtsverkehr mit einem HIV-positiven Teenager. Auf die Frage, was sie einmal werden möchten, geben die Mädchen Berufe wie Krankenschwester an, andere haben sich bereits für ein Psychologiestudium eingeschrieben.

(…) Selbst in Deutschland wird man die Augen vor diesem Problem nicht mehr lange verschließen können. Mädchen, die in der Frankfurter B-Ebene den Männern "Komm her, du, ich schneid dir den Schwanz ab" nachkreischen, sind dabei noch das geringste Übel. Stattdessen bilanziert ein Mitarbeiter der Spezialeinheit für Jugendkriminalität bei der Fürther Polizei: "Während es früher exotisch war, wenn Mädchen durch Gewalt auffielen, geht heute ein Drittel der Gewaltkriminalität auf ihr Konto." Auch Reinhard Lubitz, Nürnberger Oberstaatsanwalt und Leiter der Jugendabteilung, lernt junge Mädchen inzwischen von einer ganz anderen Seite kennen: eine 16-Jährige etwa, die auf eine kriminelle Karriere von 50 Diebstählen zurückblicken kann, oder, wenig später, eine 15-Jährige, die bei einer Schlägerei ihrer Gegnerin mit Stiefeln in die Nierengegend getreten hatte. Sie wusste, dass das Mädchen über nur noch eine Niere verfügte. "Schlägereien und Körperverletzungen unter Mädchen gibt es immer häufiger", hält Lubitz fest. "Sie treten inzwischen genauso zu wie die Jungs." (…) Den Grund für die wachsende Mädchenkriminalität sieht der Erlanger Kriminologe und Jugendstrafrechter Franz Streng in einem sich wandelnden Rollenverständnis hin zu den durchsetzungsstarken, aggressiven Power-Frauen.


Mit meiner Einschätzung, in Deutschland werde man die Augen vor diesem Problem nicht mehr lange verschließen können, lag ich offenkundig falsch. Weibliche Täter interessieren Journalisten auch hier genauso wenig wie männliche Opfer in anderen Bereichen. Man erfährt aus der Presse so gut wie nichts davon. Dass jetzt darüber berichtet wird, liegt an zwei Gründen: Ein Mädchen ist offenbar von ihren Mitschülerinnen getötet worden; das lässt sich nicht mehr ignorieren. Und was die Tat von Heide angeht, erklärt Astrid Heidorn, Sprecherin der Polizeidirektion Itzehoe:

Das Ganze ist auch mit Smartphones aufgenommen worden. Diese Videobeiträge sind der Anlass, warum das jetzt medial noch mal ganz groß aufgelegt wurde und im Fokus steht.


Das aufrüttelnde Video von dem Vorfall, ohne dass wir heute noch nicht so deutlich über Mädchengewalt als umfassenderes soziales Problem sprechen würden, findet man hier, eine Kommentierung bei RTL.



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