Montag, Mai 26, 2025

Incels, Messergewalt und männlicher Narzissmus

1. Wenn in deutschen Medien von "Incels" die Rede ist, dann so wie in einem Artikel der B.Z. vom Freitag, der die Linie vertrat, dass "Messergewalt" und "Männergewalt" praktisch dasselbe sei. In diesem Artikel heißt es auch:

Als "Incels" bezeichnen sich unfreiwillig enthaltsame Männer, die den Frauen die Schuld dafür geben, dass sie keinen Sex haben. In Internetforen mit zehntausenden Mitgliedern teilen sie ihre Rache- und Gewaltfantasien.


Beiträge in der ausländischen Presse sind Lichtjahre differenzierter und dadurch auch konstruktiver. Im Irish Independent etwa erschien vergangenen Mittwoch der Artikel "Was ich darüber herausgefunden habe, wer Incels wirklich sind sind - und wie wir ihnen helfen können". (Schon diese Überschrift wäre in deutschen Medien kaum vorstellbar.) Dieser Artikel führt folgendes aus:

Es gibt keinen Mangel an Dokumentationen, Blogs und Meinungsartikeln über Incels. Die meisten sind geprägt von der sehr realen Sorge über den Schaden, den sie Frauen und gelegentlich der Gesellschaft insgesamt zufügen könnten.

Aber wer genau sind Incels? Welches Risiko stellen sie dar? Und was kann dagegen getan werden? Diese Fragen standen im Mittelpunkt meiner Forschung an der Swansea University und meiner klinischen Arbeit mit Männern, die sich mit dieser Gemeinschaft identifizieren oder ihr nahestehen.

Zunächst müssen wir zwischen dem Incel-Label und der Incel-Gemeinschaft unterscheiden. Viele Männer hören den Begriff "unfreiwillig zölibatär" und verspüren einen unangenehmen Moment der Wiedererkennung. Sie sind single, haben Schwierigkeiten beim Dating, sind vielleicht einsam. Aber dabei bleibt es.

Die Gemeinschaft jedoch ist etwas völlig anderes. Es ist ein sich selbst selektierendes Online-Ökosystem von Männern, die eine Identität um ihre wahrgenommene Ausgrenzung von Sex und Beziehungen aufbauen. (…) Die Menschen haben Recht, sich über diese Gemeinschaft Sorgen zu machen. Ein kurzer Blick auf ihr größtes Online-Forum (zum Zeitpunkt des Schreibens 31.000 Mitglieder) offenbart eine wirbelnde Mischung aus Nihilismus, Selbsthass und Verachtung für Frauen. Gekoppelt mit einer kleinen Anzahl gewalttätiger Angriffe im Westen, die mit Incel-Rhetorik in Verbindung stehen, ist die Angst verständlich.

Doch hier liegt das Problem: Das meiste, was wir über Incels zu wissen glauben, stammt aus dem Durchforsten dieser Foren. Und das meiste, was sie sagen, kommt von einer Handvoll hyperaktiver, extremer Nutzer, die oft mehr daran interessiert sind zu provozieren als zu reflektieren. Infolgedessen ist unser Verständnis in Richtung der lautesten und abscheulichsten verzerrt, nicht der repräsentativsten.

Das ist ein Problem, denn die Fehldiagnose eines gesellschaftlichen Problems führt meist zu seiner falschen Behandlung.

Deshalb machten wir uns daran, mehr zu erfahren. In den letzten Jahren haben mein Team und ich Incels befragt, interviewt und in einigen Fällen behandelt. Was wir herausgefunden haben, ist überraschend, besorgniserregend und vorsichtig hoffnungsvoll.

Beginnen wir mit den Stereotypen. Vergessen Sie das Medienbild des wütenden, weißen, rechtsgerichteten Jugendlichen.

In unseren Daten sind Incels meist Mitte zwanzig. Etwa 40 Prozent stammen aus ethnischen Minderheiten, sie neigen politisch leicht nach links, und viele arbeiten oder studieren. Mit anderen Worten, es gibt kein einfaches Profil.

Konsistenter sind sie in ihrer psychologischen Verfassung. Die psychische Gesundheit unter Incels ist extrem schlecht. Einer von fünf berichtet von täglichen Selbstmordgedanken. Etwa ein Drittel berichtet von klinisch relevanten Depressions- und Angstlevels.

Viele erleben chronische Einsamkeit und soziale Ablehnung. Sie sind überproportional empfindlich gegenüber Zurückweisung und haben Schwierigkeiten, sichere Beziehungen aufzubauen. Nicht überraschend ziehen sie sich aus der Mainstream-Gesellschaft in Online-Echokammern zurück, wo diese Überzeugungen verstärkt und gefestigt werden.

Das ist wichtig. Denn wenn es darum geht, schädliche Incel-Ideologie zu bekämpfen, ist die vorherrschende Weisheit, hart gegen die Frauenfeindlichkeit vorzugehen. Aber jahrzehntelange psychologische Forschung legt nahe, dass die direkte Konfrontation mit Ideologie selten funktioniert, besonders wenn sie tief in jemandes Identität verwoben ist. Und bei Incels, die glauben, ihre Ansichten seien durch "Wissenschaft" gestützt, werden stumpfe ideologische Angriffe eher verfestigen als überzeugen.

Was kann also funktionieren? Der erste Weg, den es zu erkunden lohnt, ist die Unterstützung der psychischen Gesundheit. Unsere Erkenntnisse deuten auf eine bidirektionale Beziehung hin: Je schlechter die psychische Gesundheit eines Incels, desto anfälliger ist er für Incel-Ideologie. Und je tiefer er in diese Ideologie eindringt, desto schlechter wird seine psychische Gesundheit.

Jeder, der mit Depression vertraut ist, wird das schwarz-weiße, katastrophale Denken erkennen, das in Incel-Räumen üblich ist. Die Verbesserung der psychischen Gesundheit durch Therapie kann Menschen helfen, flexibler zu denken und widerstandsfähiger gegenüber extremen Überzeugungen zu werden.

Zweitens ist das Training sozialer Fähigkeiten vielversprechend. In unseren Daten haben wir eine Untergruppe von Incels mit hohen autistischen Zügen identifiziert. Diese Männer haben oft ein geringes Selbstwertgefühl, eine Geschichte von Mobbing und Unbehagen in sozialen Situationen (besonders mit Frauen).

Ihre Vermeidung realer Kontakte bedeutet, dass sie nie die persönlichen Beweise entwickeln, um Online-Dogmen zu widerlegen. Wenn ein Forum sagt "Männer unter 1,70 m werden niemals geliebt werden", haben sie keine Gegenbeispiele in ihrem eigenen Leben, um dies zu widerlegen.

Der übliche Rat ("geh einfach raus und rede mit Leuten") wird oft aus einer distanzierten Haltung heraus gegeben und schnell abgetan.

Aber in meiner klinischen Arbeit hängt der Erfolg oft davon ab, diesen Männern zu helfen, sich sozial wieder zu engagieren. Indem wir sie dabei unterstützen, Vertrauen wieder aufzubauen, Freunde zu finden und Beziehungen zu pflegen, beginnen sie sich weniger hoffnungslos und einsam zu fühlen. Sie beginnen, Frauen als Individuen zu sehen und haben etwas, um die Leere zu füllen, die das Verlassen von Online-Räumen hinterlässt.

Natürlich würden sich nicht alle Incels auf diese Art von Unterstützung einlassen. Viele werden es nicht tun. "Soziale Fähigkeiten werden mein Gesicht nicht reparieren" und "Unterstützung der psychischen Gesundheit wird das Problem nicht lösen", werden einige höhnen. Aber selbst wenn diese Interventionen nicht zu Beziehungen führen, können sie Einsamkeit reduzieren, Unterstützungsnetzwerke aufbauen und die psychische Gesundheit verbessern. Das ist es wert, verfolgt zu werden.

Das Verständnis der Rolle sozialer Isolation bei Incels sagt uns auch, was wir nicht tun sollten. Wir sollten proaktiv diejenige Minderheit identifizieren und intervenieren, die ein Gewaltrisiko darstellt, unter Verwendung aller verfügbaren Instrumente zur Extremismusbekämpfung. Aber wir sollten nicht in Panik geraten und alle Männer, die sich mit dem Label identifizieren, als gefährlich behandeln oder sie im Namen der Sicherheit weiter isolieren.

Wenn Inceldom teilweise ein Produkt der Isolation ist, dann wird mehr Isolation das Problem nur vertiefen. Wenn Angst und Misstrauen Männer und Frauen weiter auseinandertreiben, verlieren alle.




2. Am Freitag ereignete sich am Hamburger Hauptbahnhof eine schockierende Messerattacke: Eine 39-jährige Frau stach wahllos auf Passanten ein und verletzte 18 Menschen, vier davon lebensgefährlich. Die Täterin, eine Deutsche ohne festen Wohnsitz, wurde rasch festgenommen und soll nun in einer psychiatrischen Klinik untergebracht werden. Sie war erst einen Tag zuvor aus einer geschlossenen Einrichtung entlassen worden und ist polizeibekannt. Ein politisches Motiv wird ausgeschlossen; es gibt sehr konkrete Hinweise auf eine psychische Erkrankung.

Aus einer maskulistischen Perspektive zeigt die Tat, wie wichtig es ist, Geschlechterstereotype in der Wahrnehmung von Gewalt zu hinterfragen. Es stellen sich hier gleich mehrere Fragen:

- Während bei männlichen Tätern oft sofort von "toxischer Männlichkeit", "struktureller Gewalt" oder "männlicher Aggression" die Rede ist, wird im aktuellen Fall der Fokus fast ausschließlich auf die psychische Erkrankung der Täterin gelegt. Die Berichterstattung betont ihre Krankengeschichte, ihre Entlassung aus der Psychiatrie und das Fehlen politischer Motive. Dieser Unterschied im Umgang mit Gewalt hat System: Männliche Täter werden regelmäßig als Symptom eines angeblich männlichen Gewaltproblems dargestellt, während bei Täterinnen individuelle Ausnahmezustände, psychische Erkrankungen oder tragische Umstände im Vordergrund stehen. Hätte ein Mann diese Tat begangen, wäre er in die feministische Statistik zu "Männergewalt gegen Frauen" eingefügt worden – ob er jetzt psychisch erkrankt gewesen wäre oder nicht. Wenn gegen Incels gehetzt wird, interessiert es auch kaum einen deutschen Journalisten, ob sie psychisch erkrankt sind oder nicht.

- Medienberichten zufolge war die Frau erst einen Tag zuvor aus einer psychiatrischen Einrichtung in Niedersachsen entlassen worden und hatte bereits im Februar 2025 einen Angriff auf ein Kind am Hamburger Flughafen verübt. Weitere Vorfälle sollen während ihrer Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus Ochsenzoll in Hamburg-Langenhorn stattgefunden haben.Vor diesem Hintergrund verwundert ihre Entlassung. Kann es sein, dass unsere Gesellschaft derart auf Männergewalt fixiert ist, dass sie die Gefahr, die von weiblichen Tätern ausgeht, aus dem Blick verloren hat?

- Zwei Passanten wurden für ihr mutiges Eingreifen gelobt, da sie den Angriff stoppen konnten, bevor noch mehr Menschen verletzt wurden. Statistisch gesehen sind es oft Männer, die in solchen Situationen eingreifen und sich in Gefahr begeben. Diese Bereitschaft, andere zu schützen, wird selten als Ausdruck männlicher Verantwortung gewürdigt, sondern als selbstverständlich angesehen. Fair wäre es, solche Handlungen als Teil einer positiven männlichen Identität zu würdigen. Auch in diesem Fall waren die beiden Retter wieder männlich. Spiegel-Online berichtet:

Mohammad al-Mohammad ist 19 Jahre alt und stammt aus einem südlichen Vorort von Aleppo. Er kam als Geflüchteter nach Deutschland. Seit September 2022 lebt er nach eigenen Angaben in der Bundesrepublik. Als er am Freitagabend auf den Zug wartet, habe er am Gleis eine Frau gesehen, die mit einem Messer hantiert habe, so erinnert er sich.

Viele Menschen seien plötzlich in eine Richtung gerannt. »Ich habe mich entschieden, in die andere Richtung zu rennen und die Frau zu stoppen«, erzählt er dem SPIEGEL am Telefon.

Als er auf die Frau zugerannt sei, habe er gesehen, dass ein anderer Mann, ein Tschetschene, der Frau ins Knie getreten habe. Sie sei gestürzt. "Ich habe sie festgehalten und habe ihre Hände auf ihren Rucksack gepresst, damit sie nicht mehr aufstehen kann", sagt er. Al-Mohammad spricht kaum Deutsch, aber er habe immer wieder zu ihr gesagt: "Wenn du aufstehen, ich schlage!" Das Messer der Frau habe zu dem Zeitpunkt auf den Schienen gelegen. "Die Frau hat nicht geschrien, sie hat keinen Widerstand geleistet."

Nach etwa zwei Minuten sei die Polizei gekommen. "Ich habe ihre Waffen gesehen und habe mich mit erhobenen Händen von der Frau entfernt", erzählt al-Mohammad. Eine sogenannte Quattro-Streife, ein Team aus Bundes- und Landespolizei, der Hochbahn-Wache und der DB Sicherheit, hat die Frau nach Angaben der Polizei dann festgenommen.




3. In einem aktuellen Beitrag eines Antifa-Magazins erörtert Hanna Vatter, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fachhochschule Potsdam, warum "viele der Attentäter der letzten Jahre zum Incel- oder Pick-up-Artist-Umfeld" gehörten. (Mir persönlich ist kein einziges Attentat aus dem Pick-up-Umfeld bekannt; für entsprechende Hinweise bin ich dankbar.) Ein Auszug aus dem Artikel:

Der männliche Narzissmus ist nicht nur Teil der Rechten, sondern eine gesellschaftliche Struktur und bestimmt damit das Geschlechterverhältnis bzw. Nichtverhältnis. Ich beziehe mich hier auf die Psychoanalytikerinnen Alenka Zupančič und Luce Irigaray, die von Strukturen sprechen, die unsere Denkweise und unser Zusammenleben beeinflussen. Sie argumentieren, dass eine strukturell männliche Position reproduziert wird, die sich als autonom und vollständig imaginiert. Es wird also in jeder Menschwerdung ein Nichtverhältnis reproduziert, das auf einer logischen Ausnahme, nämlich dem Weiblichen basiert. Diese weibliche Position erscheint gesellschaftlich als Stütze und Ermöglichung des Männlichen-Einen. Die Imagination der Vollständigkeit, des Männlichen-Einen, geht mit einer unbewussten "Angst vor Kastration" einher, eben nicht das autonome Übergeordnete zu sein – etwa abhängig zu sein vom Mütterlichen oder Weiblichen. Westliche Patriarchate reproduzieren dieses Männliche-Eine im Kulturellen als Übergeordnetes. Die gesamtgesellschaftlich ansteigende Misogynie, die in rechtsautoritären Diskursen zugespitzt ist, ist Ausdruck dieser Angst davor, nicht autonom und ebenfalls nicht wertvoller als das Weibliche zu sein. Weil wir nicht in der befreiten Gesellschaft leben, sondern nach wie vor in einer patriarchalen, werden unter anderem "die Frauen" für gesellschaftliche Missstände verantwortlich gemacht.


~ Spannend. ~

Ich persönlich finde allerdings den Ansatz, der im Irish Independent dargelegt wurde, überzeugender und vor allem zielführender. Das liegt aber vermutlich nur daran, dass ich ein Mann bin.



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