Neue Studie: 71% der untersuchten Männer haben sexuelle Gewalt durch Frauen erlebt
Heute wird es ein bisschen wissenschaftlicher, und wir müssen den eingängigen Kannste-auch-bei-der Arbeit-lesen-Stil dieses Blogs kurz verlassen. Allerdings ist das einzige ungewöhnliche Fremdwort, das hier immer wieder auftaucht, "Viktimisierung", und das bedeutet schlicht, dass jemand zum Opfer wird.
Das seit Jahrzehnten anerkannte Fachmagazin "Archives of Sexual Behavior" hat im Oktober 2023 eine Studie veröffentlicht, in deren Zusammenfassung es heißt:
Die sexuelle Viktimisierung von Männern durch Frauen wird in der psychologischen Forschung häufig vernachlässigt (Fisher & Pina, 2013). Das Thema ist nicht nur unzureichend erforscht, auch die Inzidenzraten und die damit verbundenen psychologischen Auswirkungen sind in der Literatur uneinheitlich (Depraetere et al., 2020; Peterson et al., 2011). Die vorliegende Studie liefert eine zusätzliche Schätzung der sexuellen Viktimisierung von Männern durch Frauen, untersucht den Zusammenhang mit psychischen Störungen der Opfer und prüft die potenziell moderierende Rolle der Konformität mit Geschlechternormen. Eine Stichprobe von 1124 heterosexuellen britischen Männern füllte eine Online-Umfrage aus, die aus einer modifizierten Befragung zu Partnerschats- und sexueller Gewalt sowie Messungen von Angst, Depression, posttraumatischer Belastungsstörung und Konformität mit männlichen Normen bestand. In der vorliegenden Stichprobe erlebten 71 % der Männer mindestens einmal in ihrem Leben eine Form von sexueller Viktimisierung durch eine Frau. Sexuelle Viktimisierung war signifikant mit Angst, Depression und posttraumatischer Belastungsstörung verbunden. Die Konformität mit männlichen Geschlechtsnormen war jedoch kein signifikanter Moderator zwischen Viktimisierung und psychischen Störungen. Diese Ergebnisse geben Aufschluss über das Auftreten von sexueller Viktimisierung durch Frauen und zeigen, wie wichtig es ist, die Forschung zu diesem Thema fortzusetzen.
71% der Männer als Opfer weiblicher Sexualgewalt erschien mir im Vergleich mit den mir bisher bekannten Studien als ein Ausreißer nach oben. Auf einer Website der US-amerikanischen Regierung etwa ist von "jeder sechste Mann" die Rede, andere Studien, auf die ich mich in meinem Buch zum Thema beziehe, sprechen davon, dass 25 beziehungsweise 50 Prozent aller Männer mindestens einmal Opfer sexueller Gewalt durch eine Frau geworden sind. Bislang habe ich 25 Prozent für eine einigermaßen realistische Größe gehalten.
Auch in der aktuellen Studie wird auf die große Bandbreite der früheren Studienergebnisse hingewiesen:
Die Inzidenzraten männlicher sexueller Viktimisierung reichen von weniger als einem Prozent bis zu 73 %, wobei die höchste gemeldete Schätzung speziell bei weiblichen Tätern bei 70 % liegt (Depraetere et al., 2020; Peterson et al., 2011). Diese Diskrepanz bei den Inzidenzraten ist wahrscheinlich auf unterschiedliche Forschungsmethoden zurückzuführen (Depraetere et al., 2020; Peterson et al., 2011). Die Ergebnisse von Inzidenzstudien können sich je nach dem verwendeten Untersuchungskriterium unterscheiden, z. B. dem Alter, in dem die Viktimisierung stattfand (z. B. Kindheit, Erwachsenenalter, Lebenszeit), dem Geschlecht des Täters, der Formulierung der Fragen und der operationalisierten Definition von sexueller Viktimisierung. Insbesondere Studien, die höhere Schätzungen der Viktimisierung angeben, verwenden in der Regel verhaltensspezifische Fragen, die wenig Spielraum für die Interpretation durch die Teilnehmer lassen (Koss, 1993b). Diese Studien verwenden auch breitere Definitionen von sexueller Viktimisierung, die weniger schwere Formen (z. B. Belästigung, unerwünschtes Küssen, Befummeln), männerspezifische Formen der Viktimisierung (z. B. Penetration) und verschiedene Zwangstaktiken jenseits von körperlicher Gewalt (z. B. verbaler Druck, Drogen; Depraetere et al., 2020; Peterson et al., 2011) umfassen. Kurz gesagt, die aktuelle Literatur über männliche Viktimisierung ist unklar, und methodische Unterschiede könnten teilweise für diese Vielfalt an Ergebnissen verantwortlich sein.
Bei der hier vorgestellten Studie wird deutlich, dass die Untersuchungsgruppe nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung steht:
Insgesamt nahmen 1190 Erwachsene aus dem Vereinigten Königreich an der Online-Studie teil, die gegen eine Gebühr von 1 £ über Prolific Academic durchgeführt wurde. Der Zweck des Fragebogens wurde als Studie über "sexuelle Erfahrungen von Männern und psychische Gesundheit" beworben. In der Beschreibung wurde davor gewarnt, dass Fragen zu nicht einvernehmlichen sexuellen Erfahrungen gestellt würden. Die Daten wurden Ende Mai 2022 von 512 Teilnehmern und Anfang Juni 2022 von 678 Teilnehmern erhoben. Die Teilnehmer wurden durch die internen Filter von Prolific vorab auf heterosexuelle britische Männer überprüft. Alter, Geschlecht und Sexualität waren die einzigen demografischen Informationen, die erhoben wurden. Weitere demografische Daten wurden nicht erhoben, da eine größere Anonymität die Bereitschaft der Teilnehmer und die Genauigkeit ihrer Angaben erhöhen könnte (Rosenbaum & Langhinrichsen-Rohling, 2006).
Allerdings weisen die Autoren der Studie darauf hin, dass es sich bei ihren Erkenntnissen nicht um unrrealistische Ausreißer nach oben handelt, sondern dass schon frühere Forschung in diese Richtung zeigte:
Die Ergebnisse der aktuellen Studie unterscheiden sich jedoch nicht von anderen Schätzungen in der vorhandenen Literatur. So berichten beispielsweise Studien über amerikanische College-Studenten von einem Anteil männlicher sexueller Viktimisierung von bis zu 73 % (Waldner-Haugrud & Magruder, 1995), wobei der Anteil speziell weiblicher Täterschaft bei bis zu 70 % liegt (Fiebert & Tucci, 1998). Neuere Studien in deutschen und türkischen Stichproben berichteten über männliche sexuelle Viktimisierung in Höhe von 65 % (Depraetere et al., 2020). Die Ergebnisse der vorliegenden Studie deuten darauf hin, dass das hohe Maß an männlicher sexueller Viktimisierung in Großbritannien den in anderen Ländern gemeldeten Werten entsprechen könnte. Es liegt auf der Hand, dass die sexuelle Viktimisierung von Männern durch Frauen ein weit verbreitetes Problem ist, das weitere Aufmerksamkeit erfordert.
Umso verblüffender ist es, wie sehr unsere Gesellschaft sexuelle Gewalt noch immer als "Gewalt von Männern gegen Frauen" phantasiert. Die Erkenntnisse der Forschung gelangen nicht in die deutschen Leitmedien, und Männerrechtler, die darauf hinweisen, werden angefeindet oder totgeschwiegen. Konservative wenden sich ab, weil diese Studien ihre starren Geschlechterklischees erschüttern – Linke wenden sich ab, weil diese Erkenntnisse ihr Mantra von der "Frau als Opfer" hinterfragen.
Erwähnenswert sind auch die weiteren Studienergebnisse:
Was die Häufigkeit betrifft, so wurden 57 % der Stichprobe mehr als einmal und 45 % der Stichprobe mehr als zweimal sexuell viktimisiert. Die Analyse der Antworten auf die einzelnen Fragen ergab, dass 39,80 % eine versuchte oder vollzogene erzwungene vaginale/anale Penetration erlebten (siehe Tabelle 2). Darüber hinaus gab die Stichprobe an, dass die sexuelle Viktimisierung in 4,77 % der Fälle durch Gewalt oder Androhung körperlicher Gewalt erfolgte, in 33,00 % der Fälle durch Druck und in 29,40 % der Fälle durch Ausnutzung der Trunkenheit oder der Unfähigkeit zur Einwilligung. Kurz gesagt, wir fanden beträchtliche Hinweise auf Viktimisierung. In der aktuellen Studie wurden 57 % der Stichprobe mehr als einmal viktimisiert und 45 % der Stichprobe erlebten mehr als zweimal eine sexuelle Viktimisierung. Dies steht im Einklang mit früherer Literatur, die belegt, dass Opfer ein höheres Risiko für eine erneute sexuelle Viktimisierung haben (Classen et al., 2005; Messman-Moore & Long, 2003).
Diese Erkenntnis deckt sich mit dem, was mir meine Interviewpartner für mein Buch "Sexuelle Gewalt gegen Männer" berichtet haben. Die meisten von mir befragten Opfer haben mehrfach sexuelle Gewalt erlitten.
Zu den häufigsten Formen sexueller Viktimisierung in der Stichprobe gehörten Belästigung in der Öffentlichkeit (25 %), unerwünschtes Küssen (32 %), unerwünschte Berührungen (45 %), erzwungene manuelle Stimulation bei fehlender Zustimmung (25 %), versuchter Vaginalsex (36 %) und versuchter Oral- oder Analsex (25 %). Unabhängig von der angewandten Taktik erlebten 40 % der Stichprobe unerwünschte vaginale oder anale Penetrationsversuche oder -durchführungen. Darüber hinaus gaben die Teilnehmer an, dass die Ausnutzung der fehlenden Einwilligungsfähigkeit (29 %) und psychische Nötigung (33 %) häufiger angewandt wurden als die Anwendung körperlicher Gewalt oder die Androhung körperlicher Schäden (5 %). Diese Ergebnisse stimmen mit früheren Untersuchungen zur sexuellen Viktimisierung von Männern durch Frauen überein. In einer Zusammenfassung von Depraetere et al. (2020) wurde berichtet, dass eine beträchtliche Anzahl von Studien signifikante Inzidenzraten von unerwünschtem Küssen, Berühren, Oralsex, Analsex und Penetration bei männlichen Opfern ergab. Darüber hinaus weisen Studien darauf hin, dass weibliche Täter im Vergleich zu männlichen Tätern seltener körperliche Gewalt anwenden; stattdessen wird von weiblichen Tätern häufig berichtet, dass sie den entmündigten Zustand des Opfers ausnutzen oder psychologischen Zwang ausüben (z. B. wiederholte Aufforderungen, sexuelle Erregung auslösen) (Depraetere et al., 2020). Diese Studien zeigen, wie wichtig es ist, informierte und geschlechtsspezifische Erhebungsmaterialien zu verwenden. Studien, die geringere Formen sexueller Viktimisierung wie sexuelle Belästigung, Küssen oder Befummeln ausschließen, lassen möglicherweise relevante Vorfälle sexueller Viktimisierung in der männlichen Bevölkerung außer Acht. Und wenn nur körperliche Gewalt berücksichtigt wird, bleibt der Großteil der sexuellen Viktimisierung von Männern durch Frauen möglicherweise unerforscht.
Die Studie nennt einige weitere Gründe, warum männliche Opfer weiblicher Sexualgewalt bisher unzureichend erfasst wurden: Männer definieren sich auch vor sich selbst nur höchst ungern als Opfer einer Vergewaltigung, und sie haben Angst vor Scham und Demütigung, wenn sie Dritten davon berichten. Wenig überraschend erleiden auch männliche Opfer sexueller Gewalt oft schwere Folgen wie Angstattacken und Depressionen.
Eigentlich müsste es über all diese Forschungsergebnisse eine breite gesellschaftliche Debatte geben. Eigentlich. Bislang gelingt es denjenigen, die eine solche Debatte nicht führen möchten, sehr gut, sie zu unterbinden.
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