"Entlarvende Innenansichten – Die Macht einer Minderheit beim Genderzwang"
1. In der "Welt" hat Tim Schröder den Artikel "Entlarvende Innenansichten – Die Macht einer Minderheit beim Genderzwang" veröffentlicht. Ein Auszug:
Meine Zusammenarbeit mit einem norddeutschen Meeresforschungsinstitut endete im vergangenen Jahr, als mich die neue Pressesprecherin dazu aufforderte, in Texten künftig den Gender-Doppelpunkt bei Begriffen wie „Wissenschaftler:innen“ zu verwenden. Meinen Hinweis, dass ich Texte grundsätzlich nicht gendere, parierte sie mit einer knappen E-Mail: "Bei uns wird das von der Zentrale entschieden. Daher ist das jetzt einfach unsere formale Vorgabe." Mit dieser E-Mail ging für mich eine fast fünfzehnjährige freundschaftliche Kooperation zu Ende, in der ich für das Institut etliche Pressemitteilungen und Fachtexte geschrieben und Workshops zum Thema „Wissenschaftskommunikation“ gehalten hatte.
Wenn ich mich mit Menschen unterhalte, die vom Gendern überzeugt sind, dann höre ich oft, dass man tolerant sein müsse. Jeder habe die Freiheit zu gendern oder eben nicht. Für das Private mag das noch gelten. Im Arbeitsalltag sieht es anders aus, denn wie das Beispiel oben zeigt, ist das Gendern für Mitarbeiter vielerorts zur Pflicht geworden.
(…) Der Buchautor Fabian Payr hat vor einiger Zeit einen öffentlichen Aufruf von Literatur- und Sprachwissenschaftlern initiiert, in dem er die Genderpraxis des öffentlich-rechtlichen-Rundfunks kritisiert. Den Aufruf haben inzwischen fast 900 Personen mit wissenschaftlichem Hintergrund und mehr als 4000 weitere Unterstützer unterzeichnet. Angeregt durch diesen Erfolg fragte ich vor einigen Monaten bei einigen Journalisten- und Pressestellen-Kollegen an, ob sie bereit wären, einen ähnlichen Aufruf zu starten. Ihre Antworten waren ernüchternd und aufschlussreich zugleich, weil sie vor allem eines offenbarten: Angst; Angst, sich offen gegen das Gendern zu positionieren und als konservativ und rückständig gebrandmarkt zu werden.
Diese Angst ist berechtigt. So ordnet beispielsweise die Amadeu-Antonio-Stiftung, die ein "antifeministisches Meldeportal" betreibt, Gendergegner als "demokratiefeindlich", "frauenfeindlich" bis "rechtsextrem" ein. Das ist ein Schlag unter die Gürtellinie, von dem man sich erst einmal erholen muss. Vor allem, weil er ungerechtfertigt ist und komplett am Thema vorbeigeht. Bei der Kritik am Gendern dreht es sich für mich einzig und allein um korrekte Grammatik, Sprachgefühl und die Frage, was wir derzeit eigentlich mit unserer Sprache anstellen.
Ein Redakteur eines Technik-Magazins antwortete mir: "Ich muss sagen, dass mir das Thema ,Gendern‘ auch sehr auf die Nerven geht. Die Sprache wird beim Gendern tatsächlich völlig verhunzt. Allerdings denke ich, dass man sich bei dem Thema nur die Finger verbrennen kann. Hast du mitbekommen, was für ein Shitstorm über Heinz Rudolf Kunze hereingebrochen ist, als er sich zum Gendern äußerte?"
Der Kollege machte sofort einen Rückzieher. Zu groß war seine Angst, sich offen gegen das Gendern zu positionieren. Er befürchtete einen Konflikt mit den Genderbefürwortern in aller Öffentlichkeit.
Die Leiterin einer Uni-Pressestelle wiederum schrieb mir, dass sie einen Konflikt nach innen befürchte: "Ich schreibe Dir lieber vom privaten Account, weil ich bei dem Thema leider dienstlich nicht unbefangen argumentieren kann und leider auch ,unter Beobachtung‘ unseres Gleichstellungsbüros stehe. … Ich kann nur mitmachen, wenn ich nirgends öffentlich und auch nirgends namentlich in Erscheinung treten würde. Sonst komme ich in Teufels Küche mit unserem Gleichstellungsbüro. Ich bewege mich hier täglich auf dünnem Eis, was die ganze Thematik angeht."
(…) Ich habe mich lange gefragt, wie es sein kann, dass das Gendern in immer mehr Institutionen Fuß fassen konnte, obwohl der Großteil der Bevölkerung laut Umfragen nichts davon hält. Seit ich diese E-Mails gelesen habe, ist mir klar warum: Wenn aus Angst vor Konflikten ausgerechnet die Sprachexperten, die Kommunikationsprofis und die Journalisten schweigen, dann ist es nicht verwunderlich, dass sich das Gendern durchsetzt. Dann fehlen die fähigsten Anwälte, die die Sprache dagegen verteidigen könnten.
Hier findet man den vollständigen Artikel.
2. Die spanische Nationalspielerin Jennifer Hermoso hat gegen den suspendierten Fußball-Verbandspräsidenten Luis Rubiales Strafanzeige erstattet, weil er sie nach dem gewonnenen WM-Finale in Sydney in überschwänglicher Begeisterung umarmt und geküsst hatte. Die Strafverfolgung werde nun "so schnell wie möglich" eingeleitet, teilte die Staatsanwaltschaft mit. Nach Schätzungen von Experten könnte Rubiales zu einer Haftstrafe von bis zu fünf Jahren verurteilt werden.
3. Die Frankfurter Allgemeine beschäftigt sich mit dem autoritären Geheimnis der Sensibelchen. Ein Auszug:
Etwas stimmt nicht in der Gesellschaft, etwas ist schief. Je weniger Ungerechtigkeiten es gibt, umso mehr möchten die Menschen über Ungerechtigkeiten klagen. (…) Je weniger Sexismus es gegen Frauen gibt, umso mehr wird gegen Sexismus gekämpft.
Diese Erkenntnis ist weder strittig, noch neu. In der Soziologie nennen sie es das Tocqueville-Paradoxon, weil der französische Politiker Alexis de Tocqueville schon im 19. Jahrhundert erkannt hat, dass weniger soziale Ungleichheit nur dazu führt, dass mehr über soziale Ungleichheit geklagt wird, weil die verbliebenen Unterschiede stärker auffallen.
Auch bei der Frage, was Gewalt ist, entsteht eine immer größere Empfindsamkeit. Nach 1945 war Gewalt, wenn der eine den anderen verletzt, körperlich. Es gab keine verbale oder emotionale Gewalt, zumindest konnte die Züricher Historikerin Svenja Goltermann keinen Beleg dafür finden, und sie schreibt gerade ein Buch darüber. Es wäre denkbar gewesen, antisemitische Hetze als eine Form von Gewalt zu beschreiben, schließlich war der Holocaust gerade erst passiert. Aber niemand tat das. Das fing erst in den Sechziger- und Siebzigerjahren an.
Auf einmal gab es psychische Gewalt, dann emotionale Gewalt und schließlich sogar epistemologische Gewalt. Das bedeutet: Es wird heute schon als Gewalt verstanden, wenn eitle Männer Frauen die Welt erklären wollen, weil sie damit die Kompetenz der Frauen anzweifeln.
Wo es mehr Täter gibt, gibt es auch mehr Opfer. Das lebendige, unschuldige Opfer ist eine Erfindung unserer Zeit, früher wurden so nur die Toten genannt. Goltermann hat nachgeforscht wie in den Sechzigerjahren in England über Opferentschädigung nachgedacht wurde. Damals bezweifelten die meisten Menschen, dass ein Opfer völlig unschuldig sein kann. Sie unterstellten, dass Menschen eine Mitverantwortung haben, was ihnen passiert. Für heutige Ohren klingt das mitleidlos und dreist. Damals aber wollten Opfer keine Opfer sein, sondern stark und stolz.
Das beobachtet die Gefühlshistorikerin Ute Frevert bei der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert. Diese Menschen waren unbestreitbar Opfer unmenschlicher Ausbeutung. "Aber das Opfergefühl war nicht da", sagt Frevert. "Eher ein Gefühl von Stärke: Gemeinsam sind wir stark. Wir schaffen das." Auch beim Feminismus der Siebzigerjahre war das so. Die Frauen ließen sich nicht mehr alles gefallen. "Sie waren aggressiv und stark. Und irgendwann auch stolz." Dasselbe bei der Homosexuellenbewegung. "Gay Pride", lautete das Motto. Das war das Gegenteil der Unterstellung, Schwule seien krank und schwach.
(…) Die Philosophin Svenja Flaßpöhler hat ein Buch mit dem Titel "Sensibel" geschrieben und beschreibt, dass immer mehr Menschen wie offene Wunden behandelt werden wollen, die man vor Infektionen schützen muss. "Das sensible Selbst ist verletzlich, vulnerabel, und wir müssen zusehen, dass wir alle Zumutungen von ihm fernhalten", sagt Flaßpöhler. Das geht natürlich nur mit eisernen Regeln. Es dürfen keine falschen Wörter gebraucht und keine falschen Dinge getan werden. Je empfindlicher die Menschen, umso rigoroser muss ihr Schutz durchgesetzt werden. Wörter müssen verboten, Warnhinweise im Fernsehen eingeblendet und Schutzräume angeboten werden.
(…) Manchmal wird gefragt, ob die Menschen das ernst meinen mit ihrer Empfindlichkeit. Der Verdacht lautet, dass sie ihre Kränkung nur behaupten, um Macht auszuüben. Es gibt aber keine Antwort darauf. Die Gefühlshistorikerin Frevert sagt: "Die Vorstellung, dass es so etwas gibt wie authentische Gefühle, die wirklich nur mir gehören, wird immer wieder aufgewärmt. Dabei ist sie eine der offensichtlichsten Mythen. Gefühle sind immer ein Kommunikationsmittel. Menschen haben eine gemeinsame Sprache der Gefühle, die sie lernen." Wer behauptet, von einem altmodischen Wort verletzt zu sein, simuliert also nicht. Er drückt sich auf die Weise aus, die er gelernt hat.
Ein Psychotherapeut wie Ralph Schliewenz würde Menschen raten, sich nicht zu klein zu machen. "Wenn ich meine eigene Verletzlichkeit kenne, wer ist dann für meinen Schutz verantwortlich. Alle anderen? Ich habe doch eine Verantwortlichkeit für mich selbst", sagt er. "Wenn Erwachsene meinen, sie seien das kleine Kind, das vor sich selbst geschützt werden muss, dann ist das schon in sich verkehrt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass so jemand seine Ziele erreicht." Und wenn es nicht belohnt wird, so die Erfahrung von Schliewenz, gewöhnen es sich die Leute auch ganz schnell wieder ab.
Im 18. Jahrhundert gab es schon mal so eine Zeit. Damals gab es ein aufstrebendes Bürgertum, das sich von allem Groben abheben wollte. Die Menschen wollten moralisch sensibel sein. Es galt als republikanische Tugend, sich in Arme hineinzufühlen. In dieser Zeit entstand die Literatur der Empfindsamkeit. In den Romanen ging es nicht nur darum, viel zu fühlen – man sollte "richtig" fühlen. Oft handelten sie von jungen Mädchen, die von väterlichen Figuren angeleitet wurden, richtig zu empfinden.
Der Literaturwissenschaftlerin Cornelia Zumbusch, die zu politischen Emotionen forscht, kommt das bekannt vor. "Heute heißt es oft: ‚Das darf man nicht mehr sagen.‘ Die Betroffenen sollen sich dann bilden. Sie sollen nachlesen und lernen, was als diskriminierend verstanden werden könnte. Das ist eine Parallele zu den 1760er-Jahren."
Für die Psyche ist das alles nicht unbedingt gesund. Wer sich als wehrloses Opfer definiert, spricht sich selbst die Handlungsfähigkeit ab. Wer sagt, er sei schutzbedürftig, kann keine Stärke entwickeln, ohne sich zu widersprechen. Der Kommentator Brooks beobachtet die Entstehung "einer unreifen öffentlichen Kultur". Reife würde nämlich bedeuten, zu verstehen, "dass man sich nicht im Zentrum des Universums befindet".
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