Dienstag, August 01, 2023

Warum sich immer mehr Männer aus der Sexualität zurückziehen

1. Der Paarberater und Sexualtherapeut Dr. Christoph Ahlers verrät im Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung, wie sich Sexualität in den letzten 15 Jahren verändert hat – und kommt dabei auch auf die neue Situation für Männer zu sprechen:

Dr. Christoph Ahlers: Ja, das haben sie. Noch bis ans Ende des 20. Jahrhunderts galt das Stereotyp «Männer können und wollen immer, Frauen wollen nie». Seit Beginn des 21. Jahrhunderts stellen wir fest, dass sich diese Geschlechterverteilung ins Gegenteil verkehrt: Viele Frauen kommen mit ihren Männern zur Sexualberatung, weil die Männer nicht mehr mit ihnen schlafen. Die Frauen finden das doof und machen sich Sorgen, dass die Männer krank sind. Und ihr Selbstwert leidet darunter, sie fühlen sich nicht mehr begehrt.

NZZ: Was steckt dahinter?

Dr. Christoph Ahlers: Die meisten Männer geben an, sie hätten schlicht keine Lust mehr auf Sex. Wenn ich dann weiterfrage, stellt sich oft heraus, dass sie sich mitunter aber täglich selbst befriedigen. Das macht die Frauen natürlich erst einmal baff und sauer. Die Männer haben also sehr wohl Sex, nur nicht mit ihrer Frau. Das Problem liegt also keineswegs an irgendeiner körperlichen Störung, an den Hormonen oder was auch immer. Sondern es liegt oft in dem Gefühl der Männer begründet, in sexueller Hinsicht etwas leisten, draufhaben, bereitstellen zu müssen. Und dem weichen sie aus, indem sie sich in die sexuelle Selbstbetätigung zurückziehen.

(…) NZZ: Wie konnte sich das so verändern?

Dr. Christoph Ahlers: Meines Erachtens liegt das daran, dass sich die Werte der Leistungsgesellschaft in den letzten Jahrzehnten zunehmend auch ins Private, in unsere Körperlichkeit und in unser Seelenleben eingefressen haben. Es gibt einen hohen soziosexuellen Leistungsdruck: Wir müssen es dem anderen besorgen, ihn befriedigen. Es gibt eine Art utilitaristisches Tauschgeschäft, in dem der eine dem anderen etwas schuldet, wenn er etwas bekommen hat. Der gesamte Lebensbereich Sexualität wird reduziert auf das Leistungsziel penisvaginale Penetration zur Orgasmusproduktion. Wird dieses Leistungsziel nicht erreicht, war der Sex schlecht und sind die Beteiligten Versager.

NZZ: Was bedeutet das für unseren Sex?

Dr. Christoph Ahlers: All das macht Sex zu einer Bewährungs- und Leistungsprüfung, die unweigerlich zu Versagensangst und Vermeidungstendenz führt. Sex wird so gefühlt zu einem Leistungsalbtraum, der einer Bergetappe der Tour de France gleicht, die nur dann erfolgreich bewältigt wurde, wenn das gelbe Trikot am Ende errungen wird. Um dieses zu erringen, muss der Mann: eine Erektion aufbauen, dann muss er sie halten – hier sind wir schon fast beim olympischen Gewichtheben –, und dann muss er ihn wie eine Waffe einführen, das Ganze so lange durchhalten – wie beim Ironman –, bis dadurch die Frau 1–7 Orgasmen bekommt – was ja durch rein vaginale Penetration ohnehin nicht wirklich passieren kann, weshalb sie das vorspielt –, und dann, endlich, muss er natürlich auch noch kommen. Im Porno muss das dann immer auch noch ausserhalb des Körpers der Frau passieren, damit der Leistungsnachweis in Form von Sperma zweifelsfrei ersichtlich ist. Und dann, puh, ist es endlich geschafft.

(…) NZZ: Warum fällt es vielen Menschen so schwer, aus diesem Leistungskonzept auszubrechen?

Dr. Christoph Ahlers: Aus Angst. Die Angst, sexuell nicht zu genügen, nicht gewollt zu sein, nicht bestätigt zu werden, ist überwältigend. Wir müssen heute so viel erfüllen: Frauen müssen sexy, dünn, beruflich erfolgreich und sexuell aktiv sein, Männer müssen volle Leistung erbringen, auch sexuell, noch immer viel Geld verdienen und durchsetzungsfähig sein, trotzdem aber auch sensibel und tiefgründig und rücksichtsvoll – und am besten eine notarielle Vereinbarung vor dem Sex unterzeichnen lassen. Wir haben Angst, nicht mehr angenommen zu werden, wenn wir die Anforderungen nicht erfüllen, und deshalb fällt es Menschen so schwer, sich von diesen krank machenden Konzepten zu befreien.


Im Verlauf des Interviews kommt Ahlers auf heute noch bestehende Tabus im Bereich Sexualität zu sprechen – und damit auch auf die Debatte um Rammstein:

Dr. Christoph Ahlers: Seit über zwanzig Jahren singt Till Lindemann weltweit vor Millionenpublikum explizit von Sadomasochismus, sexueller Unterdrückung und Ausbeutung, bis hin zu sexuellem Vampirismus und Kannibalismus. Man kann wirklich nicht sagen, dass Till Lindemann mit seinen Neigungen hinter dem Berg gehalten hätte. Er sitzt auf der Bühne auf einer Peniskanone und spritzt Seifenschaum-Sperma in die Menge, die aus auffallend vielen jungen Frauen besteht. Niemand, den das abstösst, braucht die Konzerte zu besuchen – im Gegenteil, viele Frauen nehmen einiges auf sich, um auf die Konzerte zu gehen, und reissen mitunter ihr T-Shirt hoch, um in die Row Zero zu kommen. Jede dieser jungen Frauen weiss, dass backstage weder Rommé noch Canasta gespielt werden. Da findet Sex, Drugs und Rock’n’Roll statt, und genau deshalb wollen viele Frauen dahin. Und da kommen nach einschlägigen Erlebnissen backstage womöglich grosse Schuld- und Schamgefühle wegen des Tabubruchs hoch, die abgewehrt werden müssen, und da ist es für manche einfacher, hinterher zu sagen, dass einem etwas angetan worden sei. Dann ist der andere Täter, und ich bin Opfer und habe keine Selbstverantwortung mehr, obwohl ich die Situation vielleicht selbst mit herbeigeführt habe.

(…) Man kann das Recruiting und die Selektion für After-Show-Partys geschmacklos und abscheulich finden, Straftaten stellen sie nicht dar. Und sie können überhaupt nur stattfinden, wenn sich ausreichend Kandidatinnen finden, die sich darum bewerben und sich dem aussetzen wollen. Wer das nicht will, kann jederzeit einfach nach Hause gehen. Wo keine Nachfrage, da kein Markt. Aber darüber, dass es Frauen gibt, die in einer Art Angstlust, wie sie beim Konsum von Horrorfilmen entsteht, sehenden Auges genau solche Situationen aufsuchen, in denen womöglich ihre eigenen Sexualphantasien real werden könnten, und dass diese Frauen vielleicht Musik, Bands und Konzerte gut finden, bei denen es gerade darum geht – darüber darf nicht gesprochen werden.


Währenddessen fordern Eiferer von RTL, Sophia Thomalla zu entlassen, weil sie weiterhin ein gutes Leumundszeugnis an Till Lindemann abgibt und nicht an seine Schuld glaubt: "Würde mich schämen, einen Menschen unter Vertrag zu haben, der weiterhin Täter schützt", heißt es beispielsweise auf Instagram.



2. Die AfD hat gestern einen Spitzenkandidaten zur Europawahl gekürt, der als Höcke-Vertrauter mit dem Spruch "Echte Männer sind rechts" junge Leute zu beeinflussen versucht. Pornos schauen "echte Männer" Krah zufolge übrigens auch nicht.



3. Spiegel-Online hat einen Artikel über Quotenfrauen veröffentlicht:

Die von der Politik unter Druck gesetzten Unternehmen casten für Chefpositionen nahezu willkürlich – Hauptsache, weiblich besetzt. Die Auswahl rächt sich. Viele Frauen sind rasch wieder weg. Und alle nehmen Schaden.


Die Zahl der Frauen, die Vorstandposten wieder räumen müssen, häufe sich zunehmend: so etwa Amanda Rajkumar bei Adidas, davor Saori Dubourg bei BASF, Martina Merz bei Thyssen-Krupp, Carla Kriwet bei Fresenius Medical Care oder Tanja Dreilich beim Hamburger Hafenkonzern HHLA.

Ist die Quote also nachweislich ein Rohrkrepierer? Dann stünde ein Artikel darüber nicht auf Spiegel-Online. Dort sind nach wie vor die Männer die Schuldigen: diesmal die Männer, die diese Stellen falsch besetzen:

So drängt sich zumindest mir der Eindruck auf, dass Männer einfach nicht gut genug sind in der professionellen Beurteilung von Frauen. (…) Der Fisch stinkt bekanntlich vom Kopf: Die Entscheider im Aufsichtsrat sind fürs Toppersonal verantwortlich und damit auch für die neu eingestellten Vorständinnen.


Auch wenn Frauen versagen, liegt das also allein an den doofen Männern. Selbst wenn diese Männer durch die Quotenpolitik gezwungen sind, auf Biegen und Brechen eine Frau einzustellen und sich niemand Besseres für die entsprechende Stelle findet.



4. Brauchen wir eine gendergerechte Nationalhymne? Und wie könnte ihr Text aussehen? Das beantwortet die "Berliner Zeitung".



5. Österreichs Justizministerin Alma Zadic (Grüne) hat den ersten Gesetzesentwurf in rein weiblicher Form vorgelegt:

Es wird hier von "Gesellschafterinnen", "Geschäftsführerinnen" und "Mitarbeiterinnen" gesprochen. Männer seien mit dieser Formulierung mit gemeint, wie ein eigener Paragraf erklärt. "Soweit in diesem Bundesgesetz auf natürliche Personen bezogene Bezeichnungen nur in weiblicher Form angeführt sind, beziehen sie sich auf alle Geschlechter in gleicher Weise", heißt es in dem Gesetzestext.




6. Ein aktueller Beitrag des MDR zeigt, warum die gut gemeinte Idee, an die "Meldestelle Antifeminismus" parodistische Meldungen zu erstatten, höchstens bedingt sinnvoll ist. Die Meldestelle tut nämlich das, was absehbar ist: Sie zählt sämtliche eingegangenen Meldungen zusammen, nennt die schlimmsten Vorfälle als beispiele und erweckt so das Bild, unsere Gesellschaft würde in einer Flut von antifeministischem Hass untergehen, gegen den man dringend etwas unternehmen müsse: "Ziel ist es, Angriffe und Anfeindungen sichtbar zu machen und zu zeigen, dass es durchaus gefährlich sein kann, sich in der Öffentlichkeit zum Beispiel für Gleichstellung, für Feminismus oder für geschlechtergerechte Sprache einzusetzen."



7. Cancel Culture in der Evangelischen Kirche: Nach einer Welle von Kritik und Hasskommentaren im Web macht eine Nürnberger Kirche die Ausstellung eines schwulen Künstlers dicht.



8. Das Magazin Buchszene veröffentlicht eine starke Rezension des Buches "Wann sind Frauen wirklich zufrieden?". Schon in der Einleitung der Besprechung heißt es: "Dieses Buch enthält Behauptungen, die Feministinnen wütend machen." Und das Fazit der Rezension lautet: "Das Buch wirft viele berechtigte Fragen auf und regt zum Nachdenken an. Insbesondere könnte es dazu führen, dass feministische Thesen, die gemeinhin als wahr und aktuell vorausgesetzt werden, doch noch einmal in Frage gestellt werden."



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