"Datinghölle der Akademikerinnen", Rechtsruck in Spanien, Rammstein-Debatte
1. Für "Die Zeit" hat Wlada Kolosowa die US-amerikanische Anthropologin Marcia Inhorn interviewt, die ihrerseits 150 Frauen befragt hat, die ihre Eizellen einfrieren ließen. Der Grund dafür, berichtet Inhorn, sei ein gesellschaftliches Missverhältnis.
Inhorn: Meine Interviewpartnerinnen haben nicht mit Mitte oder Ende 20 beschlossen: Ich vertage meinen Kinderwunsch, um mehr Zeit für Selbstfindung oder die Karriere zu haben. Zum Zeitpunkt des Einfrierens waren sie im Schnitt fast 37 Jahre alt und hatten jahrelang einen Partner gesucht, der mit ihnen eine Familie gründen will. Mit dem Eingriff kaufen sie sich Zeit für die Suche nach einem passenden Vater.
ZEITmagazin ONLINE: Warum war die Suche so schwer für sie?
Inhorn: (…) In den USA gibt es ein großes Missverhältnis zwischen gut ausgebildeten Frauen und Männern: An den Unis und weiterbildenden Schulen studieren 27 Prozent mehr Frauen als Männer, in Kanada, UK und Australien sieht es ähnlich aus. Es gibt also mehr Akademikerinnen als Akademiker, die eine Familie gründen wollen. Dieser Mangel an verfügbaren, gebildeten Partnern führt zu einem Phänomen, das ich als mating gap bezeichne – eine Paarungslücke.
ZEITmagazin ONLINE: Gibt es dieses Bildungsmissverhältnis auch in anderen Ländern?
Inhorn: Das gibt es in den allermeisten Ländern. Weltweit gab es 2020 im Schnitt 13 Prozent mehr Frauen an Hochschulen als Männer. In Europa gibt es im Schnitt 20 Prozent mehr Frauen an den Hochschulen. (…) Forschende aus UK und Australien kommen zu ähnlichen Ergebnissen wie ich: Frauen frieren ihre Eizellen ein, weil sie keine passenden Partner finden.
(…) ZEITmagazin ONLINE: Der Soziologe Hans-Peter Blossfeld, der die Lebensläufe von mehr als 100.000 Menschen in Deutschland untersucht hat, stellte fest, dass Akademikerinnen und schlecht ausgebildete Männer es am schwierigsten auf dem Datingmarkt haben. Das lässt sich auch auf deutschen Datingplattformen beobachten, die sich an gut ausgebildete Singles richten.
Inhorn: Eine der möglichen Lösungen wäre natürlich, dass die Ärztin einen Krankenpfleger heiratet. Aber das passiert kaum. Viele Frauen, mit denen ich gesprochen habe, wünschen sich einen Partner, der ähnlich gebildet oder noch erfolgreicher ist als sie. Sie sagten: Bei der wichtigsten Entscheidung meines Lebens will ich meine Ansprüche nicht aufgeben. Da muss ich ehrlich sagen: Heterosexuelle Akademikerinnen, die in einer Partnerschaft Kinder bekommen wollen, müssen offener werden. Es gibt einfach nicht genug gebildete Männer.
(…) ZEITmagazin ONLINE: Auch die Frauen, die sich auf weniger gebildete Männer einlassen, berichten in den Interviews mit Ihnen von gescheiterten Dates.
Inhorn: Das stimmt. Ein Wort, das in ihren Erzählungen häufig fiel, war Einschüchterung. Eine Interviewpartnerin erzählte von einem Date, das vielversprechend schien, bis sie den Mann zu sich nach Hause einlud. Der Mann sah zum ersten Mal ihre Eigentumswohnung, ihr teures Auto. Er meldete sich nie wieder. Ich hörte viele solcher Geschichten.
Das ist ein bemerkenswertes Interview. Als Frauen noch weniger verdient haben, als Männer, hieß es in unseren Medien "die armen Frauen", und Feministinnen kamen vielfach zu Wort. Jetzt, da das Ungleichgewicht zunehmend zu Lasten der Männer geht … heißt es immer noch "die armen Frauen", und natürlich werden keineswegs die Opfer der "Jungenkrise" befragt – und schon gar nicht die Männerrechtler, die schon vor 25 Jahren auf genau diese sich abzeichnende Entwicklung hingeweisen haben. Aus Sicht der Medien steckt die gut verdienende Frau in der "Datinghölle", wenn sie zunächst partnerlos bleibt. Männer in derselben Situation werden als "Incels" geschmäht. Ihre Situation wird für die Leitmedien dann erwähnenswert, wenn sich daraus Folgeprobleme für Frauen ergeben.
2. Ebenfalls in der "Zeit" findet man einen Beitrag darüber, wie die feministische Politik Spaniens zum Erstarken der rechten Partei "Vox" geführt hat. Ein Auszug:
Guillermo Fernandéz Vázquez ist Politikwissenschaftler an der Universität Complutense in Madrid. Er sagt, dass die Vox-Partei vor allem wegen ihrer antifeministischen Haltung beliebt sei, hauptsächlich bei jungen Männern. "Das ist eine Reaktion auf den institutionalisierten Feminismus und ein Protest gegen vermeintliche feministische Cancel Culture." Frauen würden die Partei kaum wählen. Umfragen bestätigen das. Demzufolge wollen bei den Parlamentswahlen nur 5,3 Prozent aller Frauen für Vox stimmen, aber durchschnittlich 12,3 Prozent aller Männer. Schon bei den Kommunalwahlen in der Region Castilla y León im vergangenen Jahr waren junge Männer die größte Wählergruppe der Partei.
Dass Vox damit gewinnt, hat mit den vergangenen Jahren zu tun, in denen die spanische Regierung progressive, feministische und queerpositive Gesetze verabschiedete, und damit auch international Aufsehen erregte. Es gibt ein Gesetz über Sexual- und Reproduktionsgesundheit, das menstruierenden Personen ermöglicht, bei Menstruationsbeschwerden nicht zu arbeiten. Ein weiteres erlaubt, den Geschlechtseintrag im Ausweis und anderen offiziellen Dokumenten mit einer einfachen Erklärung gegenüber den Behörden zu ändern. Medizinische Gutachten sind dafür in Spanien nicht mehr nötig.
(…) Diese Stärkung weiblicher und queerer Selbstbestimmung stellt Vox als männerfeindlichen Akt einer Großstadtelite dar und als ideologisch motivierte Freiheitseinschränkung für Männer. "Vox inszeniert sich dagegen als Partei der Rebellion und Freiheit", sagt der Politikwissenschaftler Fernandéz Vázquez. Das komme insbesondere bei jungen Männern an, von denen laut einer im Mai 2023 veröffentlichten Studie der Fundación Fad 44,7 Prozent sexistische Ansichten vertreten. Befeuert von ähnlich denkenden Influencern mit extrem großer Reichweite fühlten sie sich durch die feministische Agenda der Regierung angegriffen und gekränkt. Vox verspricht Abhilfe. Eine Stimme für die Partei ist dann nicht nur ein Akt des Widerstandes gegen die männliche Kränkung, sondern auch eine Rebellion gegen "die da oben" insgesamt: Wenn die feministische Regierung links ist, kommt die Gegenkultur von rechts.
Wir hätten dieses Problem nicht, wenn die etablierten Parteien auch männerfreundlichen Politikansätzen und Initiativen eine Stimme gewährt hätte. Aber so weit denkt man bei der "Zeit" natürlich nicht.
Bemerkenswert bleibt: In Spanien lässt man lieber eine radikal rechte Partei ans Ruder, als eine dezidiert männerfreundliche Politik anzubieten.
3. Bei den Schweizern ist – trotz aller Mehrheiten dagegen – die Gendersprache im schulischen Bereich weiter auf dem Vormarsch:
Das zeigt das kantonale Gymnasium [in Chur]. Die Bündner Kantonsschule, wie die Bildungsstätte heisst, nimmt’s ernst mit den Pronomen und Endungen. Es segelt durch die Matura, wer nicht konsequent die neue Sprachnorm anwendet.
Sprich: Zu verwenden ist immer sowohl die männliche als auch die weibliche Form an jenem Gymnasium, wo die zukünftige Elite der wichtigen Region geformt wird.
"Wir verlangen seit etwa drei Jahren bei der Matura-Arbeit eine diskriminierungsfreie Sprache", bestätigt der Rektor des Gymnasiums im Hauptort des Berg- und Tourismus-Kantons, Philippe Benguerel. "Dazu gehört auch eine angemessene Berücksichtigung der Verwendung von männlichen und weiblichen Bezeichnungen. Wir finden, das gehört sich für sprachlich neutral gehaltene Arbeiten, die wissenschaftlichen Standards genügen sollen."
Auch für die Jahre vor den grossen Abschlussprüfungen legen die Bündner Wert auf eine möglichst inkludierende Sprache; wer das nicht beherzigt, der muss Bestrafung durch schlechtere Noten gewärtigen.
"Eine diskriminierungsfreie Sprache gilt generell in unserem Schulhaus in der mündlichen und schriftlichen Ausdrucksweise", so der Rektor. "Wo Sprache bewertet wird, kann der Sprachstil Teil der Bewertung sein."
Wenn "*" und "-innen" in der Nordost-Ferienecke des Landes obligatorisch werden, ist der Fall klar: Gendergerechte Sprache hat obsiegt. Duden hin oder her.
4. Anders sieht es in Niederösterreich aus: Wer dort noch gendert, muss ab August Strafe zahlen.
5. In der Türkei wanderte ein Portugiese für 20 Tage hinter Gitter – weil er "schwul aussieht".
6. Das Magazin CICERO hat Simon Bergmann, den Rechtsanwalt des Rammstein-Sängers Till Lindemann zur Verdachtsberichterstattung der Medien interviewt. Bergmann war vor dem Landgericht Hamburg erfolgreich gegen den Spiegel vorgegangen. (Das Gericht sprach von einem fehlenden sogenannten "Mindestbestand an Beweistatsachen" und untersagte dem Hamburger Nachrichtenmagazin Teile seiner Lindemann-Berichterstattung.) Das CICERO-Interview ist sehr lang; selbst wenn ich es auf das aus meiner Sicht Notwwendigste eindampfe, bleibt die entstandene Passage immer noch lang.
CICERO: Herr Bergmann, worauf beruhen die Strafanzeigen gegen Till Lindemann, die die Staatsanwaltschaft Berlin veranlasst haben, Ermittlungen aufzunehmen?
Bergmann: Die Behörden in Vilnius haben ihre Ermittlungen bereits eingestellt mangels hinreichenden Tatverdachts. Die Ermittlungen der Berliner Staatsanwaltschaft wurden ausgelöst nicht durch Strafanzeigen von Opfern, sondern von zwei Personen und einem Verein, die sich auf die Medienberichterstattung beziehungsweise ein YouTube-Video berufen.
CICERO: Die Berliner Staatsanwaltschaft hat also nicht von Amts wegen ein Verfahren eröffnet, obwohl die Informationen ja öffentlich zugänglich waren, sondern erst reagiert auf die Strafanzeigen?
Bergmann: So, wie wir das der Ermittlungsakte entnehmen können, ist das der Fall. Ob die Behörde da auf öffentlichen Druck reagierte, vermag ich nicht zu sagen. Andererseits: Wir haben nichts dagegen. Ein Ermittlungsverfahren hat den Vorteil, dass die Vorwürfe geklärt werden, und zwar von Profis und nicht von Investigativ-Journalisten. Uns ist es lieber, dass die Staatsanwaltschaft das überprüft, als dass es im Raum stehen bleibt. Solche Fälle kenne ich auch, dass Verdachtsberichterstattung stattfindet, aber parallel überhaupt gar kein Ermittlungsverfahren läuft. Das ist ein neues Phänomen.
(…) CICERO: Erkennen Sie in der jüngsten Verdachtsberichterstattung ein Muster? Ist das eine neue Entwicklung mit Ergebnissen, die man so vor fünf oder vor zehn Jahren noch nicht hatte?
Bergmann: Es drängt sich der Eindruck auf, dass das Thema mit der MeToo-Bewegung und Harvey Weinstein einen ganz neuen Spin gewonnen hat in den Medien. Sie haben bemerkt, dass dieses Thema die Leute triggert. Es erzielt hohe Aufmerksamkeit, alleine schon das Schlagwort "MeToo", und es garantiert hohe Verkaufszahlen, insbesondere im Digitalbereich.
Deswegen werden Sie auch kaum MeToo-Berichte finden ohne Bezahlschranke. Sie erscheinen in der Print-Ausgabe – die man kaufen muss – und häufig im kostenpflichtigen Abo-Bereich, sind dann also nicht frei zugänglich. Der Grund dafür ist, dass man damit auch Geld machen will. Das hat zu einer erheblichen Zunahme unzulässiger Verdachtsberichterstattung geführt und zu einer gefährlichen Verschiebung der Vorgaben.
(…) CICERO: Die Autoren und ein Justitiar des Verlags sagten neulich in einer Video-Diskussion mit ausgewählten Lesern – "Spiegel-Backstage" vom 29. Juni – selbst: "Wir wissen nicht, ob das stimmt, was wir da schreiben."
Bergmann: So ist das. Es gibt Vorwürfe, es gibt Indizien oder Zeugen oder auch nicht. Der Betroffene bestreitet es oder äußert sich nicht. Ob derjenige das getan hat, was jemand behauptet, das weiß man nicht. Das muss das Ermittlungsverfahren klären oder ein Gericht oder es klärt sich von selbst auf. Nur: Solange das eben nicht geklärt ist, hat der Beschuldigte als unschuldig zu gelten. Deswegen gibt es diese strengen Vorgaben vom Bundesgerichtshof über das Bundesverfassungsgericht bis hin zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
(…) Ich habe in letzter Zeit sehr häufig erlebt, dass die Presse in einem sehr frühen Stadium über einen Verdacht, über Vorwürfe berichtet. Das heißt: Es gibt noch gar kein Ermittlungsverfahren. Oder wie beim kanadisch-italienischen Moderator, Schauspieler und Komiker Luke Mockridge, ein anderer Fall, den ich betreut habe: Ein Ermittlungsverfahren ist sogar schon eingestellt worden von der Staatsanwaltschaft mangels hinreichenden Tatverdachts. Es gab eine Anzeige seiner Ex-Freundin, er habe versucht, sie zu vergewaltigen, und daraufhin hat die Staatsanwaltschaft über ein Jahr lang ermittelt.
(…) Bei Mockridge kamen die Ermittler zum Ergebnis: Da ist nichts dran. Widersprüchliche Aussagen, Fremdsuggestion, Eifersucht, sie hat die Wohnung zerstört und ihn dann Monate später angezeigt. Trotzdem hat der Spiegel nach Einstellung der Ermittlungen "berichtet". Und das hat ihm das Hanseatische Oberlandesgericht in zwei Instanzen mit Urteil vom 20. Juni 2023 untersagt. Umso mehr müsste nämlich in solchen Fällen die Unschuldsvermutung gelten. Das ist eben das Problem.
Die Presse achtet nicht mehr darauf, dass es hinreichende Indizien gibt. Dabei gilt: Je schwerer der Vorwurf, umso strenger die Anforderungen. Sexuelle Nötigung, sexueller Missbrauch oder gar Vergewaltigung, noch dazu unter Einsatz von K.O.-Tropfen, sind schwerwiegende Vorwürfe, die der Beschuldigte nie wieder los wird, selbst wenn er in einem Strafverfahren freigesprochen werden würde. Dementsprechend stark müssen die Indizien sein, um berichten zu können.
CICERO: Gehen Sie davon aus, dass solche Rechtsstreitigkeiten und sogar Niederlagen wie jetzt vor dem Hamburger Oberlandesgericht, die ja auch erhebliche Kosten verursachen, von vornherein von den Magazinen in ihren Umsatzerwartungen einkalkuliert werden?
Bergmann: Ich glaube schon, dass man die Risiken bei den Verlagen sieht und bewusst eingeht.
(…) CICERO: Ist das Voyeurismus, der da instrumentalisiert und umsatzmäßig ausgeschlachtet wird? Zumal man vom Privatleben der Band Rammstein so gut wie nichts weiß. Die schotten sich ab und erlauben keine Einblicke, schon gar keine Homestories; was erst recht neugierig macht.
Bergmann: Definitiv. Das ist ja auch mein Kritikpunkt. Die vermeintlichen Täter gehen mit ihrem Privatleben nicht hausieren. Bei Luke Mockridge war das Ermittlungsverfahren eingestellt, als die Berichte begannen, bei Rammstein wurden Verdachtsberichte zum Anlass eines Ermittlungsverfahrens genommen, beim Galeristen Johann König gab es überhaupt kein Ermittlungsverfahren, bis heute nicht, was Die Zeit nicht hinderte, gegen ihn loszulegen.
CICERO: Die Zeit konnte schreiben, was sie will, aber die Staatsanwaltschaft hat das völlig kalt gelassen?
Bergmann: Richtig. So ist es. Die haben das alles kalt geschrieben. Im Fall Johann König gab es überhaupt nichts. Was aber die Zeit nicht daran gehindert hat, immer weiter zu machen. Und da haben wir auch im Fall Lindemann ein Problem. Ich kann natürlich verstehen, und es ist grundsätzlich zulässig, dass die Presse auch ohne ein begleitendes Ermittlungsverfahren über Verdachtsmomente berichtet, denn die Presse hat eine "Wachhund-Funktion". Aber so leichtfertig, wie das inzwischen häufig geschieht, ist das hochproblematisch und wird zu Recht in vielen Fällen von den Gerichten untersagt.
CICERO: Sorry, aber die Berichterstattung soll doch die fehlenden Indizien und Beweise erst liefern. Weil ja alle Angst haben, die Frauen sind alle eingeschüchtert von der Macht der Gegenseite, man werde ihnen ohnehin nicht glauben und so weiter.
Verdachtsberichterstattung à la Spiegel oder Süddeutsche oder Zeit oder NDR ist nach dieser Arbeitsthese der gerechte und seit Weinstein überfällige Ausgleich für die strukturelle Ungerechtigkeit, die gerade Frauen in MeToo-Fällen rund um die Uhr widerfährt.
In der Hoffnung, dass man die Opfer dadurch überhaupt erst dazu bringt, sich zu outen und sich vertrauensvoll an die Redaktion zu wenden, damit sie untermauern, was am Anfang an Vermutungen und Behauptungen und Hörensagen ganz schön wackelig gewesen sein mag.
Bergmann: Auch diese Fälle kenne ich. Die Berichterstattung soll im Nachhinein durch ihre Folgerungen gerechtfertigt und abgesegnet werden. Ich habe sogar davon gehört, dass Pressevertreter anonym Strafanzeigen erstattet haben, um dann über ein eingeleitetes Ermittlungsverfahren berichten zu dürfen. Der Druck, den die Presse macht, ist jedenfalls enorm. Bei Lindemann wurde ja schon nach kürzester Zeit von den Kommentatoren gefordert, jetzt müsse doch aber die Staatsanwaltschaft mal was machen, da könne man doch nicht einfach zusehen.
In der folgenden Interviewpassage geht Bergmann auf das beliebte Argument ein, es hätten doch zwei Dutzend Frauen Vorwürfe gegen Rammstein erhoben, also müsse da doch wohl "etwas dran" sein. Bergmann führt dazu aus, dass man erst im Rahemn gerichtlicher Schritte gegen Redaktionen überhaupt erfahren kann, was genau diese Frauen dem Rammstein-Sänger vorwerfen. Dabei stelle sich häufig heraus, dass es dabei eben nicht um strafrechtlich Relevantes wie die Verwendung von K.O.-Tropfen geht, sondern allein um das "Casten" von attraktiven Fans für freiwilligen Sex – was man moralisch verurteilen mag oder eben nicht.
Bermann: Eigentlich ist das Intimsphäre pur, ein geschützter Bereich, der die Öffentlichkeit überhaupt nichts angeht. Das hat in einer Berichterstattung nichts zu suchen. Man rechtfertigt es hier damit, dass es darum gehe, dieses "Casting-System" und dessen vermeintliche Perversion zu dokumentieren. Und man will nahelegen, dass die Frauen angeblich mit K.O.-Tropfen in einen Zustand der Bewusstlosigkeit versetzt wurden, weil sie sich nicht mehr an alles erinnern.
CICERO: Das Bild der selbstbestimmten Frau, die Sex mit Lindemann aus welchen Gründen auch immer gezielt sucht, findet nicht einmal als theoretische Möglichkeit statt.
Bergmann: Im Prinzip werden alle Frauen zu Opfern gemacht, die mit einem Prominenten ins Bett gehen. (…) Die Artikel werden manipuliert. In vielerlei Hinsicht. Sie werden kaum einen finden, in dem nicht das Schlagwort "MeToo" ausgebreitet wird. Der Spiegel bewirbt seine MeToo-Berichterstattung, die er hinter der Bezahlschranke Spiegel+ bereithält, marktschreierisch wie ein Baumarkt seine Angebote. Und dann der Name "Harvey Weinstein". Er darf niemals in den entsprechenden Artikeln fehlen.
(…) Deswegen rede ich von Manipulation. Die beiden Fälle werden gleichgestellt. Da steht immer ein Foto von Weinstein dabei, meist vor Gericht, sehr heuchlerisch nach dem Motto "Mit Weinstein begann alles und auch dort begann alles mit einer einzelnen Frau …" – es wird also suggeriert, so könnte auch Till Lindemann enden. Wegen schwerer Sexualstraftaten, was nach aktuellem Sachstand nicht ansatzweise in Betracht kommt und übrigens nicht einmal von den Vorwürfen, die der Spiegel erhebt, gedeckt ist: Zu den K.O.-Tropfen habe ich in der Akte nichts gefunden an Beweismitteln. Der Spiegel rudert an dieser Stelle auch schon zurück und sagt, diesen Verdacht habe er gar nicht erhoben, sondern er sei in erster Linie auf dieses "Casting-System" zu sprechen gekommen und eben auf Machtmissbrauch.
CICERO: Was ist der Machtmissbrauch im Fall Lindemann?
Bergmann: Vergleicht man den mit dem Fall Weinstein, stellt man fest: Der Machtmissbrauch existiert nicht. Was soll das für eine Macht sein? Prominenz des Rockstars soll die Macht sein. Die nutze er aus. Nur: Diesen Vorwurf könnten Sie gegen jeden Prominenten erheben, der mit einer Frau, die vielleicht nicht seine eigene ist, Sex hat.
CICERO: Haben Sie Anhaltspunkte gefunden, dass Ihr Mandant Frauen etwas in Aussicht gestellt oder versprochen hat? Stellt er einen Background-Chor zusammen? Eine Tanzgruppe? Vocals? Oder hat er ihnen umgekehrt mit Karriereende gedroht, wenn sie nicht gefügig sind?
Bergmann: Nichts dergleichen. Das behaupten auch die Frauen nicht, die der Spiegel jetzt als Zeuginnen heranzieht. In den Eidesstattlichen Versicherungen, die ich gesehen habe, ist davon nicht die Rede. Im Gegenteil: Die Frauen sagen überwiegend, dass sie wussten, dass es in der After-Show-Party zu Sex kommen wird, und sie sind trotzdem hingegangen. Lediglich zwei dieser Eidesstattlichen Versicherungen stammen von Frauen, die aus eigener Anschauung berichten. Andere berichten lediglich Atmosphärisches. Und dass sie gegangen sind, als es ihnen unbehaglich wurde.
CICERO: Wurden Frauen daran gehindert, zu gehen, als sie gehen wollten?
Bergmann: Hierzu habe ich in den vom Spiegel überreichten Unterlagen nichts gefunden. Aber: Ich selbst war nie dabei. Ich kann also nur wiedergeben, was ich bisher an gesammelten Aussagen gesichtet habe. Ergebnis: Keine der Frauen sagt, sie sei daran gehindert worden, den Raum zu verlassen. Und keine der Frauen redet von Machtmissbrauch. Im Gegenteil: Die meisten, so verstehe ich jedenfalls die Aussagen, waren an Sex interessiert.
(…) Es hat auch keine der Frauen selbst Strafanzeige erstattet oder selbst Schritte eingeleitet, bis heute nicht. Das ist ja auch ein Indiz dafür, dass sie die Vorgänge selbst als freiwillig angesehen haben. Was bleibt, ist die Darstellung von zwei Frauen, sie könnten sich vorstellen, dass ihnen etwas ins Getränk getan wurde. Das sagen sie nicht ausdrücklich – sie sprechen von Erinnerungslücken. An andere Sachen erinnern sie sich wiederum sehr detailliert. Es gibt nach ihren Aussagen Flashbacks, es gibt Aussetzer.
(…) CICERO: Ich sehe darüber hinaus das Problem, dass man erst einmal als Betroffener eine Menge Geld bei Ihnen auf den Tisch legen muss, bevor man überhaupt so eine Nummer des Spiegel oder von wem auch immer angreifen kann.
Bergmann: Das kommt hinzu. Ich habe Mandanten, die ehrlich sagen: Wir müssen leider die Waffen strecken, so leid es uns tut. Es geht finanziell nicht mehr.
(…) CICERO: Welche Summen kommen da zusammen?
Bergmann: Das richtet sich nach dem Streitwert und dem Verfahrensgang – je schwerer die Rufschädigung, desto höher die Kosten. Wenn der Mandant am Ende verliert, was Gottseidank selten passiert, muss er alle Kosten tragen, auch die der Gegenseite. Da kann ein sechsstelliger Betrag zusammenkommen. Natürlich gibt es Leute, die sich das leisten können und müssen, aber es gibt eben auch Mandanten, die sind zwar prominent, aber keine Millionäre.
CICERO: Und die werden in die Knie gezwungen.
Bergmann: Und das wissen die Medien, die Prozessgegner. Die kalkulieren die finanzielle Situation des Betroffenen ein. Die sagen sich: Wir machen die Verdachtsberichterstattung trotz aller Bedenken, aber der Scoop ist so gross, dass es sich auf jeden Fall rechnet und die Anwaltsgebühren buchen wir mit ein. Nach meinem Eindruck ist der Spiegel mittlerweile auf einem Bild-Zeitungs-Niveau angelangt. Im konkreten Fall sogar eindeutig schlimmer als die Bild. Da werden Methoden angewandt, die eigentlich dem Boulevardjournalismus zugeschrieben werden. Das ist eine schlechte Entwicklung. (…) Ich habe inzwischen seltener Fälle gegen die Bild als gegen den Spiegel.
CICERO: Wie geht es jetzt im Fall Lindemann weiter?
Bergmann: Da bin ich jetzt gespannt. Wir haben auch noch andere Medien im Visier. Ich finde die Berichterstattung der Süddeutschen Zeitung und des Norddeutschen Rundfunks auch unzulässig, aber sie ist nicht ganz so vorverurteilend und reißerisch wie die vom Spiegel. Die ist schon sehr extrem.
(…) Hierin zeigt sich auch der Belastungseifer, der bei den Recherchen zum Thema MeToo an den Tag gelegt wird. Anstatt in Ruhe zu recherchieren und auch nach entlastenden Umständen zu suchen, geht es nur darum, den nächsten Weinstein-Fall aufzudecken, egal was für und gegen den Betroffenen spricht.
(…) CICERO: Der erste öffentliche Reflex, als Sie ins Spiel kamen, lautete: Aha, die haben jetzt Schertz Bergmann engagiert und die haben nichts besseres zu tun, als erst einmal eine Salve von Verwarnungen, Einschüchterungen, Drohungen auf Gott und die Welt und vor allem die armen Frauen abzufeuern und Journalisten und Zeugen zum Schweigen zu bringen. Wie gehen Sie damit um?
Bergmann: Das ist natürlich ein Versuch, uns mundtot zu machen. Der Vorwurf geht ohnehin völlig an der Sache vorbei. Wir haben eine Presseerklärung herausgegeben, die besagt: Gegen den falschen Vorwurf, Lindemann habe Frauen mit K.O.-Tropfen betäubt, um sie dann sexuell zu misshandeln, werden wir vorgehen. Weiter haben wir erklärt, dass wir gegen unzulässige Verdachtsberichterstattung vorgehen werden. Es kann also keine Rede davon sein, dass wir gegen jeden vorgehen, der einen Vorwurf erhebt. Aber wir haben gesagt: Wir gehen gegen diesen speziellen Vorwurf vor, weil er falsch ist. Das "Casting-System" haben wir gar nicht erwähnt.
Wenn aber jemand sagt wie Shelby Linn, sie sei gespiked worden, ihr seien K.O.-Tropfen gegeben worden, dann gehen wir dagegen vor. Weil es eine falsche Tatsachenbehauptung ist. Und es muss einem Betroffenen möglich sein, sich hiergegen zu verteidigen, um den Rufschaden einzudämmen. Das Recht zur Verteidigung gehört zu den fundamentalen Prinzipien eines Rechtsstaats.
Währenddessen beschimpft die Berliner "taz" Rammstein-Fans als "emotional verwahrlost":
Wie Kinder eben kommen einem die Rammstein-Fans vor, die einfach nicht glauben wollen, dass Papi Mami schlägt, weil ja noch kein Urteil gesprochen ist, das sie in ihrer geistigen Unreife und emotionalen Abhängigkeit selbst nicht zu fällen in der Lage sind.
Diese Fans seien, so die "taz", skandalöserweise nicht bereit, auf Konzertbesuche zu verzichten und damit "Respekt und Mitgefühl zu zeigen, für die und mit denen, die unzweifelhaft gelitten haben und leiden". Ein solcher Boykott der Konzerte würde doch ausreichen, um "ein bisschen Anstand zu zeigen" gegenüber einer Band, der nichts Besseres einfalle, als "sich hinter Anwälten zu verschanzen" und "höhnisch wie SS-Männer" aufzutreten. Dem gegenüber seien alle "betroffenen Frauen" selbstverständlich "Heldinnen".
Derweil fordern die Frauensprecherinnen der Grünen in Wien ein Auftrittsverbot für Rammstein. Durch die Durchführung der Konzerte werde sexualisierte Gewalt verharmlost und sogar geduldet: "Die juristische Unschuldsvermutung sollte kein Freifahrtschein sein, mutmaßlichen Gefährdern aktiv eine Bühne zu bieten."
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