Freitag, Juli 14, 2023

Mithu Sanyal auf Spiegel-Online: "Männer – Gewinner der Geschlechterlotterie? Von wegen"

1. Langjährige Leser meiner Bücher wissen, dass Mithu Sanyal eine der Feministinnen ist, mit denen ich gerne zusammenarbeite. Nachdem ich während meiner Lektüre feministischer Werke, auf ihr gelungenes Buch "Vergewaltigung" gestoßen bin, konnte ich sie für Beiträge in meinen Büchern "Gleichberechtigung beginnt zu zweit" und "Sexuelle Gewalt gegen Männer" gewinnen, während ich einen Beitrag für ihren Roman "Identitti" leistete. Jetzt hat Mithu ein Nachwort für den Sammelband "Oh Boy: Männlichkeit*en heute" geschrieben, der gestern auf Genderama vorgestellt wurde. Dieser Beitrag wurde inzwischen in gekürzter Form von Spiegel-Online veröffentlicht. Einige Auszüge daraus:

Sexismus, den Männer erleben, ist für uns als Gesellschaft häufig unsichtbar. Deshalb müssen wir endlich über Gender und Männlichkeit(en) sprechen. Und zwar anders, als wir das bisher tun.

(…) Wir schauen Männer in der Regel nicht an und fragen uns: Wo ist dieser Mensch verletzlich? Sondern: Wie kann er mich verletzen? Wir gehen davon aus, dass Männer die Gewinner der Geschlechterlotterie sind. Entsprechend überrascht war ich, als mein Sohn in dem Alter war, in dem er auf dem Bauch über den Boden robben konnte, und alle Mädchenmütter in der euphemistisch benannten Krabbelgruppe seufzten: "Sie ist schon eine richtige kleine Zicke." Nein, nicht davon war ich überrascht, sondern vom Anschlusssatz der Jungsmütter: "Er ist schon ein richtiger kleiner Pascha." Zu jeder Zuschreibung gibt es eine analoge Gegenzuschreibung. Spoiler: Sie sind alle erschütternd.


Sanyal zufolge werden den Geschlechtern "genderkonforme Reaktionen" anerzogen:

Zu diesem Schluss kamen die Psychologen John und Sandra Condry, nachdem sie 204 Erwachsenen Videoaufnahmen eines weinenden Babys gezeigt hatten. "Einigen wurde gesagt, das Baby sei männlich, anderen, es sei weiblich. Die Probanden empfanden das weinende 'Mädchen'-Baby als verängstigt, doch wenn sie dachten, sie würden einen Jungen beobachten, beschrieben sie 'ihn' als 'wütend'. Wer daraus schließt, dass 'ängstliche' Babys eher auf den Arm genommen werden als 'wütende' und dass sie mehr gestreichelt und länger beruhigt werden … hat recht. Terrence Real bestätigt: 'Studien zeigen, dass mit Jungen von Geburt an weniger gesprochen wird als mit Mädchen, sie weniger getröstet und weniger bemuttert werden.'

Das heißt nicht, dass wir uns alle geirrt haben und Männer die eigentlichen Opfer von Sexismus sind, sondern dass der Sexismus, den sie erleben, für uns als Gesellschaft häufig unsichtbar ist. Umso wichtiger ist es, dass wir als Gesellschaft über Gender und Männlichkeit(en) sprechen. Und zwar anders, als wir das bisher tun.

"Das Klischee, dass Männer nicht in Kontakt zu ihren Emotionen stehen, sagt nichts über inhärente Eigenschaften von Männlichkeit aus, sondern viel mehr über Verhaltensergebnisse, die Männern rigoros beigebracht werden, oft von wohlmeinenden Eltern und der gesamten Gesellschaft", erklärt Kali Holloway in einem Essay mit dem Titel "Toxic Masculinity Is Killing Men", also: toxische Männlichkeit bringt Männer um. Wortwörtlich. 2015 belegte eine Studie der Rutgers-Universität, dass die fünf Jahre kürzere Lebenserwartung von Männern nicht etwa an unterschiedlicher Biochemie liegt, sondern eine Folge von … na, ist ja klar, was, ist. "Das kulturelle Skript bringt Männern bei, dass sie mutig, selbstständig und hart sein sollten. Frauen haben nicht dasselbe Skript, keine kulturelle Botschaft, die ihnen mitteilt, dass sie, um echte Frauen zu sein, sich bei Krankheiten und anderen Symptomen nicht so anstellen sollen", führt Mary Himmelstein von der Rutgers-Universität aus. Das wird nicht erst bei lebensbedrohlichen Krankheiten relevant. Männer lernen, insgesamt weniger sorgsam mit sich selbst umzugehen und seltener um Hilfe zu bitten, weshalb sie mehr Krankheiten aufgrund von Stress entwickeln und dreimal so häufig Selbstmord begehen wie Frauen.


Auf Twitter gibt es die erwartbaren Proteste gegen den Artikel.



2. Währenddessen lassen die Leitmedien in der Geschlechterdebatte, wenn sie Männer überhaupt zu Wort kommen lassen, fast ausschließlich Kerle aus dem feministischen Lager sprechen. Das veranschaulicht in dieser Woche sehr gut eine Talkshow des SWR mit dem Titel "Problemfall Mann: Warum steigt die Gewalt gegen Frauen?" (man hätte den Beitrag auch "Wie scheiße sind Männer eigentlich?" nennen können). Nachdem die Moderatorin Eva Röder den Frame für das Narrativ gesetzt hat, dass Männer wirklich schlimm seien, dürfen Christoph May, vom Institut für Kritische Männerforschung, und der "Männlichkeits- und Gewaltforscher" Rolf Pohl das wortreich bestätigen, während Mithu Sanyal eine sanfte Verteidigung der Männer wagt.

Das sind die in dieser "Debatte" vertretenen Positionen:

Christoph May findet "toxische Männlichkeit einen großartigen Begriff, weil er Männer sofort triggere – und und wenn sich dadurch jemand persönlich getroffen fühle, sei das nicht sein Problem. Männlicher Widerspruch gegen seine kruden Thesen ist für ihn offenbar grundsätzlich eine "männerbündische Abwehrstrategie", "biologistisch" oder "Mansplaining". Für May sind Fragen wichtig wie "Was können wir Männer selbst dazu tun, uns 24/7 feministische zu verhalten?" Außerde findet er: "Diese vielen neuen Männerrechtsbewegungen, Väterrechtsbewegungen, die beruhen alle auf dieser fragilen Männlichkeit, die gehen immer rein in diese Opferposition." Was das angeht, ist er "nicht sehr optimistisch, was die Zukunft angeht" – und zwar deshalb: "Ich kann nicht sehen, dass Männer in relevanter Zahl am feministischen Diskurs teilnehmen. Wo sind die alle? Warum gehen die auf nicht die Straße und kämpfen für Gleichstellung? Warum reden wir ständig von Frauen und Männern: es gibt so viele andere Geschlechter. Das finde ich alles hochproblematisch!" Überhaupt seien "von der FDP bis zur AFD seien konservative Partien alle antifeministisch". Zum Schluss des Gesprächs bricht dann doch eine Form von Optimismus in ihm heraus: Jeder, der weiterhin intersektionale und feministische Basics ignoriere, "muss damit leben , dass seine Werke in kürzester Zeit aus der Zeit fallen, weil sie sexistisch sind, reaktionär wirken und immer öfter unerträglich." Womot verdient jemand mit dieser Einstellung sein Geld? Hierzu berichtet May, dass er vor allem von Diversity-Beauftragten zu Gleichstellungsseminare eingeladen werde, weil die Männer dorthin nicht freiwillig kämen, sondern man sie durch eine spezielle "Ansprache" (offenbar Reklame) gewinnen müsse, auch wenn sie in den Seminaren dann doch oft bockig seien.

Rolf Pohl findet es problematisch, wenn May von einer "toxischen Männlichkeit" spricht, denn das suggeriere, "wenn es eine toxische Männlichkeit gibt, gibt es auch eine nicht-toxische". Darüber hinaus kritisiert er die Medien: Viele überregionale, meinungsbildende Medien würden inzwischen auf den männerrechtlichen Zug des Leidens der Männer aufspringen – er ironisiert dieses Leiden lang und breit -, notwendig dagegen wäre ein neuer gemeinsamer Aufschrei in der Öffentlichkeit und kulturell.

Die Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal sieht sich nach all diesen Attacken herausgefordert, "die Männer zu verteidigen". Sie hält nicht mit ebensolchem Futor wie die beiden Kerle dagegen, führt aber immerhin Benachteiligungen von Männern auf und spricht sich dagegen aus, Opferzahlen gegeneinander zu setzen.I n ihrem Schlusswort zu der Debatte plädiert sie dafür dafür, Jungen mehr Zuwendung und Liebe zu geben, wobei sie bislang oft vernachlässigt würden.

So stehen sich zum Schluss die beiden Fronten "Man muss viel strenger mit Männern sein, dann werden sie besser" und "Man muss Männern von klein auf mehr Zuwendung geben, dann werden sie besser" gegenüber.



3. Auch HR 2 hat die diese Woche veröffentlichten Zahlen zum Problembereich Häusliche Gewalt in einer eigenen Sendung aufgegriffen. Nachdem es darin wissenschaftsfern fast ausschließlich um das Leiden von Frauen geht, haben von Minute 43 bis 46 auch männliche Opfer Raum. Zitiert werden in diesen Minuten der (von mir geschätzte) Therapeut Björn Süfke, Klaus Pörtner von Polizeidirektion Limburg-Weilburg, der berichtet wie seine Kollege darin geschult werden, männliche Opfer nicht spontan abzulehnen, sowie Stefan Siedel von der Evangelischen Kirche Kurhessen-Waldeck, der einen ersten Fachtag "Männergewaltschutz in Hessen" ins Leben gerufen hat. Relativiert werden diese Minuten sofort danach, indem der Moderator der Sendung fälschlich behauptet, männliche Opfer seien bei häuslicher Gewalt "eben nur ein kleiner Teil, zu rund 90 Prozent sind Frauen betroffen".



4. Die Post. Einer meiner Leser schreibt mir heute:

Ich habe eine Anmerkung zum Thema:"Der Wissenschaftsrat fordert eine Ausweitung der Genderstudien"

Es ist nicht so, daß Geschlechterthemen in der mathematischen Literatur gar keine Rolle gespielt haben. In dem Standardlehrbuch für Statistik "Einführung in die Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik" von Ulrich Krengel war schon vor der Jahrtausendwende ein Unterkapitel "Bedingte Wahrscheinlichkeit und Scheinkorrelation" enthalten, in dem als konkretes Beispiel der Fall von einer deutlich geringeren Annahmequote von Frauen bei einer Universität, und folglich vermuteter Frauenbenachteiligung behandelt wird. Dieser löste sich bei gemauerer Betrachtung in geringfügig bessere Aufnahmequoten für Frauen auf. Frauen hatten sich häufiger auf Fächer mit geringeren Aufnahmequoten beworben. Der Rest des Buches ist für Nichtmathematiker ungeniesbarer Formelkram. Was Herrn Krengel bewogen hat, dieses mathematisch nicht gerade anspruchsvolle Beispiel in sein Buch aufzunehmen, ist mir nicht bekannt, aber es gibt viele gute Gründe dafür, und gerade solche, die denen, die mehr Geschlechterforschung in den MINT-Fächern fordern, nicht gefallen.




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