Soziales Experiment geht viral: So unterschiedlich reagieren Unbeteiligte auf weinende Frauen und Männer
1. Die Männerrechtsbewegung macht seit langem auf den sogenannten Gender Empathy Gap aufmerksam, der verhindert, dass benachteiligte oder aus anderen Gründen leidende Männer Hilfe erhalten. Ein Video auf Tiktok, das gerade viral geht, veranschaulicht ihn anhand eines Experiments:
Eine junge Frau sitzt in einem Bekleidungsgeschäft und weint. "Ich schäme mich so, in der Öffentlichkeit in Tränen auszubrechen, entschuldigen Sie!" Eine andere Kundin setzt sich zu ihr, beruhigt sie: "Das müssen Sie nicht. Sie brauchen nur zu Atem zu kommen. Tief atmen."
(…) In der nächsten Szene wird die Frau, welche die Weinende getröstet hat, gefragt, weshalb sie das gemacht habe. "Ich weiss einfach, wie ich mich gefühlt hätte. Ich hätte auch jemanden gebraucht, der auf mich zukommt, mich tröstet", sagt sie. Auf die Frage, ob sie das auch für einen Mann getan hat, sagt sie überzeugt: "Ich hätte ihn genau gleich behandelt."
Diese These wird allerdings kurz darauf im Video widerlegt: Als ein männlicher Schauspieler im selben Laden einen leichten Nervenzusammenbruch erleidet und zu weinen beginnt, weil ein Kleid, das er seiner Freundin kaufen müsste, nicht in der richtigen Grösse verfügbar ist, fallen die Reaktionen ganz anders aus. Viele Frauen drehen sich weg, ignorieren ihn.
Eine Kundin, die in den Laden kommt, geht noch einen Schritt weiter: Sie wendet sich an das Personal und erkundigt sich, ob alles okay sei – aber nicht etwa beim weinenden Mann, sondern beim Personal. "Er hat nichts zu mir gesagt, er benimmt sich einfach komisch", sagt sie zur jungen Verkäuferin. Diese versichert, es sei alles in Ordnung. Darauf angesprochen, weshalb sie das getan habe, sagt die Kundin: "Die Verkäuferinnen sind junge Frauen, die hier auf sich alleine gestellt sind. Ich wollte nur sichergehen, dass sie in Sicherheit sind."
(…) Auf die Frage, weshalb die Menschen im Video so reagieren, gibt der Psychotherapeut Bruno Sternath folgende Antwort: "Wenn wir unerwartet jemanden weinen sehen, löst das oft erst einmal eine gewisse Hilflosigkeit aus. Man weiss nicht genau, wie man auf die Situation und Mitmenschen reagieren soll." In seiner Arbeit als Traumatherapeut und Notfallpsychologe sieht sich Sternath oft mit solchen Situationen konfrontiert. "Wichtig ist die Ansprache, die beiden aus einer Hilflosigkeit oder Ohnmacht heraushelfen kann: Offen auf den Menschen zugehen und fragen, ob und wie man den Mitmenschen unterstützen könne."
Was die unterschiedlichen Reaktionen angeht, je nachdem, ob ein Mann oder eine Frau weint, sagt Sternath: "Hier spielt sicher rein, dass es weniger üblich ist, Männer weinen zu sehen. Das Bild von weinenden Männern ist gesellschaftlich einfach weniger vertraut und löst deshalb womöglich eher Irritation aus." Die Hürde zur Ansprache und zur Hilfsbereitschaft sei hier vermutlich deshalb für viele noch etwas höher.
2. Gestern verlinkte Genderama einen Artikel der Süddeutsche Zeitung über einen SPD-Politiker, der die Gendersprache kritisiert. Das hat einen Politiker der Grünen zum Toben gebracht:
Seit gestern sieht sich Liedermacher und SPD-Stadtrat Roland Hefter (55) mit heftiger Kritik konfrontiert. Hefter hatte in seinem Lied "Genderpolizei" unsinnige Sprachregeln mit Sternchen veralbert (…). Im Netz nicht nur Beifall: Hefter wird teils als Nazi und queerfeindlich beschimpft. Auch der Münchner Politiker Arne Brach (Grüne) wetterte heftig, schrieb in einer Privatnachricht an Hefter (…): "Absicht, sich in mitunter braunem Abschaum wohlzufühlen? Wegen Likes? Die junge (Nazi) Freiheit liebt Roland schon mal - stolz drauf?"
(…) Die CSU stärkte Hefter den Rücken, schickte eine Stellungnahme raus. Manuel Pretzl (47), CSU-Fraktionsvorsitzender sagt: "Ich bin entsetzt, dass Stadtratskollege Roland Hefter aufgrund eines künstlerischen Beitrags einem derartigen Shitstorm ausgesetzt ist. Man kann von dem Lied halten, was man möchte, aber es bewegt sich eindeutig im Rahmen des demokratischen Spektrums."
Auf Twitter wehrt sich Hefter gegen den Hass, der ihm entgegenschlägt, als ob er ein Männerrechtler wäre:
Manche Formen des Genderns finden laut Umfrage keine Zustimmung. Ich werde als Künstler und Kommunalpolitiker alles tun, dass diese Bürger nicht den Eindruck haben der politische Gegner (AfD) hat dieses Anliegen exklusiv für sich gepachtet.
Vor allem die Münchner AZ ätzt gegen Hefter:
Innerhalb der Münchner SPD sind offenbar sehr viele sehr genervt von Hefters Lied. Selbst wer sonst sehr gerne spricht, spricht lieber gar nicht. Rathaus-Fraktionschefin Anne Hübner, sonst um keinen Kommentar verlegen? Verweist auf eine schriftliche Mitteilung, in der sie dünn schreibt, Hefter sei "als Kabarettist und Künstler frei zu singen, was er möchte". Aber: "Als Fraktion gendern wir selbstverständlich seit vielen Jahren und halten das auch für wichtig."
Anruf bei SPD-München-Chef Christian Köning. Ob er was sagen will? "Ich verweise auf die Mitteilung der Fraktion." Ob er eine Meinung zum Vorgang habe? "Ja." Wie die Meinung sei? "Ich verweise auf die Mitteilung der Fraktion." Die Nervosität ist offenbar groß.
Der erklärte AfD-Gegner Hefter gilt beim Koalitionspartner als Provokateur und SPD-Rechtsaußen. "Das ist alles so billig", sagt ein Grüner. Mit großem Foto in die Münchner "Bild"-Zeitung hat es Hefter so wenigstens geschafft.
Dass die SPD sich zu keinem klaren Statement in dieser Frage durchringen will, kann ich bestens nachvollziehen: Sind doch die allermeisten Bürger gegen das Gendern und offenbar die allermeisten Journalisten dafür. Man will es sich weder beim Wähler verscherzen, noch eine dauerhaft unwirsch-vergrätzte Presse. Anderen Parteien geht es offenkundig ähnlich:
Entsprechend zugeknöpft geben sich die Fraktionen von Grünen/Rosa Liste und SPD/Volt. Man wolle sich zum Lied von Roland Hefter nicht äußern, heißt es von den Grünen, die das Gendern zusammen mit der SPD als Ziel im Koalitionsvertrag festgeschrieben hat. Von Hefters eigener Fraktion kommen offiziell nur ein paar wenige Sätze. "Roland ist Kabarettist und Künstler. Als solcher ist er frei, zu singen, was er möchte", erkläre die Vorsitzende Anne Hübner. Um im zweiten Satz darauf hinzuweisen, dass Hefters Haltung nicht die seiner Kolleginnen und Kollegen ist. "Als Fraktion gendern wir selbstverständlich seit vielen Jahren und halten das auch für wichtig, da es uns um Gerechtigkeit für alle auch in der Sprache geht." In der SPD-Fraktion selbst wird Hefters Lied wohl auch von nicht wenigen sehr kritisch gesehen. Die Jusos sollen intern mit einem Brief ihren Unmut mitgeteilt haben. Äußern möchte sich der Vorsitzende Benedict Lang dazu nicht.
Unverblümte Kritik äußerte der Linken-Fraktionschef Stefan Jagel, nicht nur an Hefter, sondern auch an der SPD-Fraktion. Hefter fantasiere eine "Gender-Polizei" herbei, die die Sprache kontrolliert, ärgerte sich Jagel auf Twitter. "Ganz schön daneben" sei es, als "Künstler*in so in den von rechts dominierten Kulturkampf gegen das ach so autoritäre Gendern einzusteigen". Er erwarte eine Distanzierung von der SPD-Fraktion, schrieb Jagel weiter.
Eine solche kam nicht, aus der SPD erhielt Hefter sogar auch Zuspruch. "Danke Roland, ich finde dieses elitäre Sprachverhalten auch absurd", schrieb der Münchner Verdi-Vorsitzende Heinrich Birner in einem Internet-Kommentar. Der SPD-Landtags-Kandidat in Bogenhausen, Alexander Friedrich, nahm Hefter gegen rechte Anwürfe in Schutz. "Wer dich aber politisch in die Rechtsaußen-Ecke der SPD stellt, bei deinem ganzen Engagement für die Rentnerinnen und Rentner, für die Menschen in München, denen es nicht so gut geht, sollte den eigenen politischen Kompass überdenken", schrieb er dem Liedermacher.
3. 92 Prozent der Sachsen lehnen das Gendern ab. Aus der Perspektive einiger Ideologen sind das vermutlich alles Nazis.
4. Ein spanischer Unternehmer muss wegen sexistischer Frauenbevorzugung 7500 Euro Strafe zahlen.
5. Einer meiner juristisch sachkundigen Leser schreibt mir zu der gestern verlinkten Meldung, dass im Studentenparlament der Freien Universität Berlin die Mitglieder verpflichtet sind, ihre Anträge in einer "gendersensiblen Sprache" einzureichen:
Ich bezweifle, daß dieser Passus in der Satzung vor Gericht Bestand hätte.
Unabhängig von der Frage des "Genderns" gilt immer noch der Grundsatz falsa demonstratio non nocet - eine falsche Bezeichnung schadet nicht. (Wobei ich natürlich richtigen Sprachgebrauch nicht für falsch halte.) Es kommt nur darauf an, daß erkennbar ist, was mit dem Vorbringen angestrebt wird. (Beispiel: Wird das Rechtsmittel gegen einen Bußgeldbescheid als "Widerspruch" bezeichnet - richtig wäre "Einspruch" - so wird es gleichwohl bearbeitet, soweit es die Voraussetzungen - hier Frist - im Übrigen erfüllt.)
Zwar können Satzungen innerhalb eines gewissen Rahmens eigene Regeln aufstellen, an rechtsstaatliche Grundsätze aber müssen sie sich halten.
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