"Vice" entsetzt: Junge Männer zunehmend von Feminismus abgeschreckt
Die englischsprachige Ausgabe des stramm feministischen Magazins "Vice" reagiert in einem aktuellen Beitrag verstört darauf, dass inzwischen die Hälfte aller jungen Männer in Großbritannien findet, der Feminismus ginge zu weit. Dass der Artikel auf diese Entwicklung nur mit der gewohnten ideologischen Wucht reagieren kann, verrät schon seine Schlagzeile über "Jungen, der Generation Z, die Frauen hassen"würden. Kritik am Feminismus ist demnach automatisch Frauenhass. Trotz oder gerade wegen dieser Polemik lohnt sich ein näherer Blick auf diesen Artikel.
Er beginnt gleich im ersten Absatz mit einer Darstellung von Männlichkeit, die die eigene Abwertung des anderen Geschlechts offen zur Schau stellt:
Eines Abends öffnete Marie die Schlafzimmertür ihres jüngeren Bruders Oliver, um ihm einen Becher Tee zu bringen. Sie wurde mit dem typischen abgestandenen Geruch von Urin, Zigarettenrauch und Alkohol und dem hörbaren Brummen von Männern empfangen, die aus dem Gaming-Headset ihres Bruders brüllten. Als sie zum Fenster schlich, um es zu öffnen, rief ihr Bruder "vergewaltige sie" und lachte, dass Schlampen vergewaltigt und entsorgt werden müssen.
Das ist also das Bild, das "Vice"-Autorinnen von jungen Männern verbreiten. Ob das Geschilderte so stattgefunden hat und wie weit es durch die Perspektive der "anonymen" Marie gefärbt ist, erfährt der Leser nicht. Ein Geschwisterkonflikt wird hier benutzt, um junge Männer von Anfang an in ein schlechtes Licht zu rücken.
In den nächsten Wochen machte sich Marie - die für sich und ihren Bruder aus Sorge um deren Sicherheit um Anonymität bat - daran, Oliver zu überwachen. Wenn er spielte, hörte sie vor seiner Tür zu, was er halbironisch über das Headset sagte. (...) Sie hörte auch, wie Oliver über Vergewaltigungsstatistiken diskutierte. "Er sprach darüber, dass Männer immer fälschlicherweise der Vergewaltigung beschuldigt werden", erinnert sie sich. "Feministinnen waren Lügnerinnen und man durfte ihnen nicht trauen. Ich dachte, wie schrecklich das sei, gerade weil wir mit meiner Mutter und ihm darüber diskutiert hatten, wie ich als Mädchen sexuell belästigt wurde."
Entweder Oliver oder Marie fassen hier die Forschungslage viel zu vereinfachend zusammen, aber tatsächlich gibt es viele Studien, denen zufolge die Rate an Falschbeschuldigungen bei sexueller Gewalt hoch ist. Soll man darüber schweigen, weil Mädchen wirklich sexuell belästigt werden? Auffällig ist immerhin, dass Oliver über die Häufigkeit solcher Falschbeschuldigungen weiß, obwohl sie in den Leitmedien kaum ein Thema ist.
Weiter geht es mit der von der Organisation "Hoffnung statt Hass" erhobenen Statistik, der zufolge die Hälfte der jungen Männer in Großbritannien glaubt, der Feminismus ginge allmählich zu weit. Gibt das Anlass zu Selbstkritik oder zu Überlegungen, wie man diesen großen Teil der jüngsten Generation für Frauenanliegen gewinnen kann, indem man auch für die Anliegen von Männern eintritt? Natürlich nicht. Stattdessen geht es so weiter:
Eine wachsende Zahl von Experten aus den Bereichen Feminismus und Anti-Extremismus machte sich bereits vor der Pandemie Sorgen über einen männlichen Backlash gegen junge Frauen und deren gesellschaftspolitische Errungenschaften. (...) Wenn man das liest, fragt man sich vielleicht: Was passiert da mit männlichen Teenagern und jungen Männern?
Nachdem das feministische Lager von der Hälfte aller jungen Männer als zu extremistisch kritisiert wurde, gibt man dort dieseen Vorwurf nach dem Motto "Selber!" schlicht an den Kritiker zurück. Der Feminismus muss richtig liegen, also muss mit den jungen Männern etwas nicht stimmen: Das wird noch nicht einmal klar gesagt, sondern den Lesern des Beitrags als Reaktion unterstellt. Als Schuldige werden schnell das rechte Lager und Incels ausgemacht.
Schade, denn die nächsten Passagen wären ohne diese negative Rahmung durchaus erhellend gewesen:
"Männer sind Müll" lautet seit 2016 eine beliebte Phrase und ein Hashtag. Seitdem haben Millennial- und Gen Z-Männer das herausgefordert, was sie als seinen Reduktionismus ansehen. Ursprünglich von Mädchen als bewusst provokante Aussage gemeint, wird er, wie es ein Eintrag im Urban Dictionary ausdrückt, "als verallgemeinernde und hasserfüllte Phrase aufgefasst, die von einer Bewegung geprägt wurde, die behauptet, Hass und Bigotterie zu bekämpfen".
Ted, ein 24-Jähriger aus Kent, erzählte mir, dass er früher vielleicht Sympathien für den Feminismus empfunden hätte, "aber wenn man in die gleiche Schublade gesteckt wird mit dem ganzen 'Männer sind Abschaum' und so weiter, dann denkt man, was soll das?"
Reddit-Männerrechtsforen sind übersät mit ähnlichen Herkunftsgeschichten von jungen Männern: "Ich habe mich früher als Feminist identifiziert, bin aber aus der Bewegung ausgetreten, als ich gefragt habe, ob es irgendwelche Nachteile für Männer gibt. Anstatt die Frage zu beantworten, haben die Leute angefangen, auf mich zu schießen", schrieb einer. Ein anderer merkte an: "Ich konnte die Gruppenhasserei nicht verstehen."
Was Carter an den Ergebnissen der "Hoffnung-statt-Hass"-Studie interessant fand, war, dass die jungen Leute von heute in den Bereichen, in denen wir die Kohorte stereotypisch verstehen, progressiver sind als frühere Generationen. Sie sind weitgehend für Einwanderung und Multikulturalismus und unterstützen alle Sexualitäten und Geschlechtsidentitäten. "Aber es war eindeutig der Feminismus", sagt Carter. "Es ist eine Ideologie, gegen die sich die Jungen wehren, inmitten der sich verändernden sozialen Normen."
Spätestens jetzt müsste die kritische Selbstreflektion doch einsetzen? Wenn die jungen Männer (und auch viele von uns älteren) bei zahlreichen Fragen progressiver geworden sind – ist dann die Ablehnung von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, wie sie in Parolen wie "Männer sind Müll" zum Ausdruck kommen, vielleicht auch Teil dieser Entwicklung? Nein, so denkt man bei "Vice" nicht. Stattdessen wird Männern vorgeworfen, sie würden nur verärgert reagieren, weil sie ihre Privilegien verlören.
In den darauf folgenden Abschnitten kommt die Vice-Autorin auf "MeToo" zu sprechen:
Im Jahr 2018 bot #MeToo Frauen die Möglichkeit, über Sex, Dating und Vergewaltigungskultur zu sprechen. Es bot wohl auch Männern, die damals in ihren 20ern und 30ern waren, die Möglichkeit, ihr eigenes Verhalten aufzuarbeiten und ihre Begegnungen mit Frauen zu überprüfen. Es suggerierte eine symbiotische Beziehung: Frauen sprechen, und Männer hören zu und können durch diese Äußerungen ihre Männlichkeit verstehen.
Männern wird die Rolle desjenigen zugewiesen, der bloß zuhören darf und seine "Männlichkeit verstehen" soll, indem er Berichte über Vergewaltigungen hört? Hm. Mir scheint, die Erklärung dafür, dass sich junge Männer massenhaft vom Feminismus abwenden, liegt nahe.
Als ich 2019 einen Artikel schrieb, in dem ich mit Teenagern über #MeToo sprach, stellte ich fest, dass sie das Gefühl hatten, kein Teil davon zu sein, und nicht wussten, was es ist oder wie es sie betrifft.
Stell dir vor. Männer, die weit überwiegend gerade kein übergriffiges Verhalten zeigen, fühlen sich von dieser Debatte nicht persönlich angesprochen. Wie kann das nur sein?
Vor der Pandemie besuchte die Frauenrechtlerin Laura Bates eine oder zwei Schulen pro Woche, um mit Schülern über die Ungleichheit der Geschlechter zu sprechen. Ein Jahrzehnt lang reichten die Reaktionen von Schock bis Kichern, aber im Großen und Ganzen waren die Schüler aller Geschlechter aufmerksam und engagiert.
Vor ein paar Jahren änderte sich etwas: Ein Junge saß in der ersten Reihe, sichtlich nervös, aber aufgeregt. In Bates' üblicher Routine unterbrach er fröhlich, um das, was sie sagte, mit falschen Statistiken über Vergewaltigungen zu entlarven und zu behaupten, dass Männer eher Opfer würden. Dies wurde zur neuen Normalität.
"Die Jungs kamen vorbereitet, fast schon vorkonditioniert, und sie hatten oft Dinge aufgeschrieben, die sie mitgebracht hatten, als ob sie im Voraus präpariert worden wären", sagt sie. "Die gleichen Argumente tauchten überall auf, von der Londoner Innenstadt bis zum ländlichen Schottland." Die Argumente waren sachlich falsch und liefen auf wenig mehr als Verschwörungstheorien und Fake News hinaus - falsche Vorstellungen und Zahlen über das Lohngefälle zwischen Männern und Frauen, falsche Vergewaltigungsvorwürfe und die Tatsache, dass Männer häufiger Opfer häuslicher Gewalt werden.
Mit anderen Worten: All die Forschungserkenntnisse, die ich zum Beispiel in meinem Lexikon der feministischen Irrtümer zusammengestellt habe, kommen trotz des Schweigetabus der Leitmedien zuhauf bei jungen Männern an, werden aber von feministischer Seite nur als "Verschwörungstheorien und Fake News" abgetan. Auch hier wird klar, warum sich diese Männer so stark vom Feminismus abwenden.
Bates begann, die Jungen zu fragen, wo sie diesen Stoff lernten. Sie sagten ihr immer "online". Sie zeigten ihr Memes, Bilder und Witze, die nicht offensichtlich oder direkt aus den Manosphere-Communities stammten, sondern deren Ideologien wiederkäuten.
Dieses Material ist online so leicht verfügbar, dass es praktisch ein allgegenwärtiger Teil der Existenz in bestimmten Bereichen des Internets ist - Teil einer "Incel lite"-Kultur, die fast schon post-organisatorisch ist. Das Online-Wachstum der extremen Rechten ist ein bedeutendes Problem, nicht zuletzt wegen, wie Bates' Hauptanliegen ist, der Anzahl der "neutralen Jungen" - diejenigen, die nicht in Männerrechtsforen oder aktiv feministisch sind - die von den extremeren Ideen über Frauen beeinflusst werden, ohne es zu merken.
Ob Feministinnen jungen Männern irgendwann gewähren werden, eine eigene Position in der Geschlechterdebatte zu entwickeln, ohne sie in das Lager der extremen Rechten zu schieben?
Ein weiteres Problem ist, dass extremistische Gruppen schon in jüngeren Jahren Zugang zu Jungen haben. (...) Eine beliebte Methode der Anwerbung von Teenagern sind PC-Spiele. Anwerber nutzen Websites und Spiele als "Jagdrevier", sagt Bates, da sich dort junge Männer versammeln. "Sie können sie ohne Aufsicht erreichen, vor allem Jungen, die über Kopfhörer Multiplayer-Online-Spiele mit Leuten spielen, die sie noch nie getroffen haben."
Wenn Feministinnen ihre Weltsicht in Kinderbüchern unterbringen, um schon die Kleinsten entsprechend zu erziehen, darf man dann in ähnlicher Weise vom "Jagdrevier Kinderzimmer" raunen? Selbstverständlich nicht: Der Feminismus ist ja gut, nur eine politische Bewegung für die Anliegen von Männern ist schlecht.
Marie und ihre Familie sind überzeugt, dass Oliver auf diese Weise ins Visier genommen wurde. Bald nachdem er begann, jede Nacht bis in die frühen Morgenstunden mit seinen neuen Gaming-Freunden zu sprechen, sagt Marie, dass sich sein Verhalten änderte und sie begannen, "ihn zu verlieren". Er erzählte Marie, dass es sich bei seinen Freunden um Männer aus der ganzen Welt handelte, die meist älter waren, und weigerte sich, weitere Informationen zu geben.
Oliver ist also ein ganz normaler Teenager, der sich von seiner Familie allmählich abnabelt und beginnt, eigene Einstellungen zu entwickeln. Dargestellt wird dies, als würde er von einem bösen Kult verführt.
Noch einmal wird dem Leser klargmeacht, dass Menschen, die sich für die Anliegen von Jungen und Männern einsetzen, zur radikalen Rechten zählen:
Wenn wir bedenken, dass die extreme Rechte Incels, Männerrechtler, Pick-up-Künstler sowie Neonazismus und Alt-Right-Splittergruppen umfasst, kann Frauenhass ein Weg sein, um auf breiter Front zu rekrutieren.
Die jungen Männer unserer Tage entwickeln also immer progressivere Ideen und werden gleichzeitig immer stärker von der extremen Rechten rekrutiert? Und niemandem in der "Vice"-Redaktion fällt auf, dass diese Argumentation keinen Sinn ergibt?
In den folgenden Absätzen wird Kritik am Feminismus als eine Art "Einstiegsdroge" für tatsächlich rechte Auffassungen präsentiert. Diese jungen Männer gilt es nun umzuerziehen und auf den feministischen Pfad zurückzuführen:
Wie deradikalisiert man einen Antifeministen? Es ist ein mühsam heikler und komplexer Prozess. Bei "Exit UK", der führenden Organisation in Großbritannien zur Unterstützung von Ausstiegswilligen aus der extremen Rechten und ihren Familien, wird jeder Junge oder junge Mann mit einem Mentor zusammengebracht. Der Mentor wird ihre Ideologie langsam über eine Reihe von Sitzungen dekonstruieren. Was sie Jungen mit frauenfeindlicher Ideologie sagen, ist einfach: Was tut deine Mutter oder Schwester für dich auf einer persönlichen, alltäglichen Ebene? Dann fragen sie: Wie würdest du dich fühlen, wenn Männer so über deine Mutter oder Schwester reden würden wie du es tust?
Aber ein falscher Schritt des Mentors und der junge Mann ist verloren. "Exit UK" sagt, dass diejenigen, die aussteigen, nie wieder gesehen werden und sehr wahrscheinlich in ihre hasserfüllte Gemeinschaft zurückkehren, mit einem Hunger, noch extremer zu werden.
Tragisch. Ach wäre der Junge, statt bestimmte Menschengruppen zu hassen, nur einer von den Feministen geblieben, die zuhauf "bewusst provokante Aussagen" wie "Männer sind Müll!" ins Internet blasen. Könnte man hier Mädchen und junge Frauen nicht einmal fragen "Was tut dein Vater oder Bruder für dich auf einer persönlichen, alltäglichen Ebene?" oder "Wie würdest du dich fühlen, wenn Frauen so über deinen Vater oder Bruder reden würden wie du es tust?" Nein, das lässt man besser bleiben. Man bräuchte ja nur einen falschen Schritt zu machen, und diese jungen Frauen wären "verloren" und würden in ihre "hasserfüllte Gemeinschaft zurückkehren, mit einem Hunger, noch extremer zu werden."
In den folgenden Absätzen wird geschildert, wie belastend es für Familien ist, mit einem "radikalisierten" Familienmitglied zusammenzuleben, dass diese jungen Männer aber, nachdem sie von dem erwähnten "Mentor" sachkundig bearbeitet wurden, wieder nett und freundlich werden. Wo im Feminismus die Wut von Frauen als berechtigt und gewinnbringend gilt, wird der Zorn von Männern als bedrohlich dargestellt.
Der Schlusspassage des Artikels zufolge greifen die beklagten Online-Communities
"sehr reale Probleme auf, eines davon ist die psychische Gesundheit von Männern. Diese Probleme machen es der Manosphäre viel leichter, sie an sich zu ziehen und ihnen die Hoffnung zu nehmen."
Könnte die sinnvollste Reaktion darauf, der verhassten Manosphere den Einfluss zu nehmen, nicht darin bestehen, dass die Gesamtgesellschaft beginnt, sich solchen Problemen und Anliegen von Männern endlich zu widmen? Das würde mir auch aus feministischer Sicht erfolgsversprechender erscheinen als in einer Gesellschaft, in der angeblich jeder zweite junge Mann den Feminismus kritisiert, jedem dieser Männer einen Mentor an die Seite zu stellen, um ihn ins feministische Lager zurückzuholen.
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