Dienstag, März 10, 2020

Rowohlt zieht Woody Allens Autobiographie zurück

Das ging schnell: Seit gestern, also einem Tag nach dem offenen Brief mehrerer Autoren, die Rowohlt auffordern, die Veröffentlichung von Woody Allens Memoiren zurückzuziehen, prangte gestern auf der Website des Rowohlt-Verlages der Satz:

DIESES BUCH WIRD AUF UNBESTIMMTE ZEIT VERSCHOBEN.


Rowohlt selbst begründet das mit einer notwendigen juristischen Klärung; ob das zutrifft, weiß ich nicht: Vor dem offenen Brief hatte Rowohlt noch erklärt, an der Veröffentlichung in Deutschland festhalten zu wollen. Ich kann mir allerdings gut vorstellen, wie vielen Menschen durch die aktuellen Entwicklungen der Eindruck vermittelt wird, die Beschuldigungen gegen Woody Allen seien berechtigt. Man muss in diesem Zusammenhang an das Fazit des Untersuchungsberichts von 1993 erinnern:

Es ist unsere Expertenmeinung, dass Dylan nicht von Herrn Allen sexuell missbraucht wurde. Ferner glauben wir, dass sich Dylans Aussagen auf dem Videoband und ihre Aussagen uns gegenüber während unserer Evaluierung nicht auf tatsächliche Ereignisse beziehen, die ihr am 4. August 1992 widerfahren sind. (…) Bei der Entwicklung unserer Stellungnahme haben wir drei Hypothesen in Betracht gezogen, um Dylans Aussagen zu erklären. Erstens, dass Dylans Aussagen wahr sind und dass Mr. Allen sie sexuell missbraucht hat; zweitens, dass Dylans Aussagen nicht wahr sind, sondern von einem emotional verletzlichen Kind erfunden wurden, das in einer gestörten Familie gefangen war und sich erneut dem Stress in der Familie ausgesetzt sah; und drittens, dass Dylan von ihrer Mutter, Ms. Farrow, gecoacht oder beeinflusst wurde. Wir können zwar schlussfolgern, dass Dylan nicht sexuell missbraucht wurde, aber wir können nicht mit Sicherheit sagen, ob die zweite Formulierung oder die dritte Formulierung wahr ist. Wir glauben, dass es wahrscheinlicher ist, dass eine Kombination dieser beiden Formulierungen Dylans Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs am besten erklärt.


Wer sich zu den Vorwürfen und ihrer Widerlegung noch gründlicher einlesen möchte, kann das auf der Website "Woody Allen Mob Lynching" tun. Allerdings möchte ich mich gar nicht vertiefender als bisher damit befassen, wie glaubwürdig die Vorwürfe gegen Woody Allen sind – denn wer das tut, begibt sich auf eine gefährliche Rutschbahn. Ein auf Spiegel-Online veröffentlichter Leserkommentar (warum sind die Leserkommentare oft so viel besser als die journalistischen Artikel?) erklärt das sehr gut:

Die Autoren [der Aufforderung, die Biographie Woody Allens nicht zu veröffentlichen,] verstoßen gegen zwei elementare Grundsätze. Erstens gegen das rechtsstaatliche Gebot der Unschuldsvermutung. Woody Allen ist nicht nur nie verurteilt worden, es steht auch nach wie vor Aussage gegen Aussage. Über welche Einblicke verfügen die Unterschreibenden, dass sie "keinen Grund (hätten), an den Aussagen von Woody Allen Tochter zu zweifeln? Darf mittlerweile jeder Journalist, jeder Autor zum Richter aufschwingen? Der Dichter als Seher? Unser Rechtsstaat ist nicht nur Angriffen von rechtsaußen ausgesetzt.

Zweitens untergräbt dieser die Meinungsfreiheit. Diese beinhaltet, dass man auch sehr persönliche Sicht der Dinge verbreiten darf. Die Autoren monieren, es hätte keinen "Faktencheck" gegeben. Was für "Fakten"? Sollen die Behauptungen der Mia-Farrow-Seite als Fakten gelten, obwohl diese so wenig als ein Fakt gelten können wie die Behauptungen Woody Allens? "Faktencheck" - das ist hier nichts anderes als eine euphemistische Beschreibung für Zensur und Rechtsverdrehung. Und selbst wäre Woody Allen ein verurteilter Mörder, so hätte er alles Recht, seine Sicht in einem Buch zu verbreiten.

Meinungsfreiheit - das ist gerade für Autoren und Künstler der Sauerstoff, ohne den sie gar nicht existieren könnte. Hier einem Künstler den Saft abdrehen zu wollen, gegen die Veröffentlichung seiner Biographie zu protestieren und zugleich vermutlich mit Amnesty International oder dem PEN gegen Zensur in anderen Ländern zu protestieren, ist ein grotesker Widerspruch. Menschenrechte heißen auch deswegen Menschenrechte, weil sie unteilbar sind.

Es ist den unterschreibenden Autoren nur sehr zu wünschen, dass sie niemals in der Verdacht einer sexuellen Straftat geraten, dass es niemals öffentliche Vorwürfe gibt, die dann von Kollegen ungeprüft geglaubt werden, die sich zum Richter aufschwingen und ohne jedes Wissen um die Wahrheit für Zensur, Publikationsverbot und damit letztlich für die Ächtung aus dem öffentlichen Raum eintreten.


Man sollte sich Namen wie Till Raether, Margarete Stokowski, Kathrin Passig und Sascha Lobo wirklich merken, wenn es um das Recht auf Redefreiheit geht. Bei Kathrin (ja, wir duzen uns) enttäuscht mich das besonders. Das war mal eine von den Guten.

Respekt hingegen vor Ralf König, ein Rowohlt-Autor, der sich in einem Statement auf Facebook - der Hexenjagd ausdrücklich nicht anschließt.

Im britischen "Guardian" hat sich Jo Glanville, ehemalige Direktorin des englischen PEN-Schriftstellerverbandes und Herausgeberin eines Anti-Zensur-Magazins zur Entscheidung des US-amerikanischen Verlages Hatchett geäußert, von der Veröffentlichung von Woody Allens Biographie zurückzutreten. Glanville macht einige Anmerkungen, die man auch Rowohlt ins Stammbuch schreiben sollte:

Die Mitarbeiter von Hachette (…) verhielten sich nicht wie Verleger, sondern wie Zensoren. Ich schaue mir seit meiner Kindheit Woody-Allen-Filme an und würde gerne sein Buch lesen. Ich würde sein Buch sogar lesen wollen, wenn er für schuldig befunden würde, denn ich interessiere mich für den Mann, seine Arbeit und sein Leben. Ich überprüfe nicht die moralische Reinheit oder das Strafregister eines Schriftstellers, bevor ich seine Werke lese. Ich müsste viele der Autoren, die ich am meisten liebe, aus meinem Bücherregal streichen, wenn ich anfangen würde, die Prinzipien der Hachette-Belegschaft anzuwenden.

(...) Verleger müssen Mut haben - den Mut, Bücher zu veröffentlichen, die nicht zum moralischen Klima passen und die Ansichten ausdrücken, welche dem Zeitgeist zuwider laufen. In den 70er Jahren kämpften die Verleger wiederholt für das Recht zu publizieren angesichts der Verfolgungen von Obszönitäten. Das waren Kämpfe, die die Grenzen der Meinungsfreiheit verschoben haben.

(...) Im Zuge von #MeToo sind wir dazu gekommen, moralische Empörung als eine gute Sache zu betrachten - wir verbinden sie nicht mit einer reaktionären Figur wie Mary Whitehouse und sehen sie auch nicht als Hindernis für den Fortschritt. Bestimmte Dinge zu unterbinden, den falschen Ansichten "keine Plattform zu geben", ist bewundernswert geworden. Es ist bemerkenswert, dass es einer kleinen Gruppe von Menschen gelungen ist, einen der größten Verlage der Welt zum Rückzug zu bewegen, aber ihre Sache ist vielleicht nicht so moralisch einwandfrei, wie sie glauben.

Für einen Verlag ist das Verhalten der Mitarbeiter, die protestiert haben, in der Tat höchst fragwürdig. Ich möchte keine Bücher lesen, die gut für mich sind oder die von Menschen geschrieben wurden, deren Ansichten ich immer teile oder bewundere. Ich habe immer Angst, wenn ein Mob, wie klein und belesen er auch sein mag, ohne jegliche Rechenschaftspflicht, ohne Verfahren und ohne Rechtsmittel Macht ausübt. Das macht mir viel mehr Angst als die Aussicht, dass Woody Allens Autobiografie in die Buchläden kommt.


Den Mut, Bücher zu veröffentlichen, die nicht zum moralischen Klima passen und die Ansichten ausdrücken, welche dem Zeitgeist zuwider laufen, haben deutsche Verlage vielfach längst verloren. Nicht ohne Grund muss ich selbst Bücher wie "Feindbild weiße Männer" und "Lexikon der feministischen Irrtümer" privat auf Amazon veröffentlichen. Die Lektoren und Verleger haben Angst vor dem Shitstorm einer kleinen, aber sehr lauten Szene. Während Woody Allen bekannt genug sein dürfte, dass er irgendwo noch einen Verlag finden kann, gilt das für zahllose andere Autoren nicht, die nicht in Reih und Glied mit dem Zeitgeist mitmarschieren möchten und trotzdem einiges zu sagen haben, das lesenswert sein könnte. Unsere Gesellschaft hat inzwischen auch infolge MeToo ein totalitäres Meinungsklima zugelassen, das einen nur noch frösteln lassen kann.

Immerhin gibt es hierzulande noch einige Journalisten, die die aktuellen Entwicklungen kritisch bewerten. So argumentiert Tobias Wenzel für den Deutschlandfunk:

Durch diesen offenen Brief weht der Geist einer Bürgerwehr, einer legalen zwar, weil sie keine Gewalt anwendet, aber einer durchaus gefährlichen. Hier maßen sich Autoren an, als selbsternannte Sittenwächter und Privatrichter besser Recht zu sprechen als der Rechtsstaat. (…) Dass die Autoren aber in diesem Zusammenhang von "unethisch" sprechen, ohne sich im Klaren darüber zu sein, wie unmoralisch ihr offener Brief ist, macht einen fassungslos. Sie kritisieren, dass Woody Allen sich als Opfer einer „Hexenjagd“ sieht, und beteiligen sich doch selbst daran, indem sie seine Autobiographie verbannen und den Regisseur beschädigen wollen. Positiv ist allerdings, dass so wenige Schriftsteller des Verlags den offenen Brief unterschrieben haben, übrigens auch kein international bedeutender Autor.


Und in der Berliner Zeitung heißt es:

Es gibt einen Abwehrreflex in mir gegen den Satz, dass Allen sich nie "überzeugend mit den Vorwürfen seiner Tochter auseinandergesetzt" habe. Er hat den Vorwürfen immer widersprochen. Er sagte, dass er es nicht war. Was wäre unter dieser Vorgabe eine überzeugende Auseinandersetzung? Da liegt eine Selbstgerechtigkeit in diesem Brief. Eine weltpolizeiliche Regung. (…) Dass Allen nicht der Prozess gemacht wurde, bleibt ein Fakt, und er ist demnach als unschuldig anzusehen. Wer das infrage stellt, stellt das herrschende Demokratieverständnis infrage.

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