Sonntag, Februar 23, 2020

Warum der Prozess gegen Harvey Weinstein zu platzen droht

Wenn man sich an den meisten Medienberichten über den Prozess gegen den Hollywood-Mogul Harvey Weinstein oritentiert, erscheint einem eine Verurteilung fast schon als Formsache und ein Freispruch als Skandal, der die Allmacht des Frauen hassenden Patriarchats zeigen würde. Der aktuelle SPIEGEL etwa betitelt einen Artikel über "Typen wie Harvey Weinstein und Dieter Wedel" wie selbstverständlich mit "Arschlöcher galten als cool": Die bloße Beschuldigung reicht inzwischen, damit jemand Zielscheibe öffentlicher Beschimpfungen in Massenmedien werden darf. Für die renommierte US-amerikanische Wochenzeitschrift hat sich nun die Kolumnistin JoAnn Wypijewski (Autorin eines kommenden Buchs über die Tabus in der MeToo-"Debatte") gründlicher und seriöser mit dem Gerichtsverfahren gegen Weinstein beschäftigt als viele Kollegen, die den Schuldspruch ohnehin im Kopf und passende Kommentare geistig vorformuliert haben dürften. Ich habe ihren Prozessbereicht für Genderama ins Deutsche übersetzt.



"Ich glaube nicht, dass irgendjemand darauf vorbereitet ist", sagte eine feministische Aktivistin in der öffentlichen Schlange vor dem Raum 1530 des Obersten Gerichtshofs des Staates New York während einer Zeugenpause am Ende des Prozesses von Harvey Weinstein wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung. "Darauf" bedeutete die Möglichkeit eines Freispruchs oder dass sich die Geschworenen nicht auf ein Urteil einigen können.

Eine Gruppe von uns hatte sich unterhalten, nachdem wir Jessica Mann direkt und im Kreuzverhör gehört hatten. Ihre Behauptungen sind für die Argumentation der Staatsanwaltschaft von zentraler Bedeutung. Wir waren vier New Yorkerinnen, Fremde füreinander: drei Frauen und ein Mann, unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Klasse; eine Schwarze, ein Latino, zwei Weiße; eine unabhängige Filmemacherin, eine Aktivistin, eine frischgebackene Hochschulabsolventin und ich. Ungewollt dachten wir wie Geschworene, die zu entscheiden hatten, ob der Staat seiner Beweislast gerecht wird. Wir hatten Zweifel. Unser Gespräch glich denen, die ich schon früher hatte, und denen, die ich in den kommenden Tagen mit anderen in der öffentlichen Schlange haben würde, während wir mit dem Rücken zur Wand und in einem großen Gerichtssaal, der bereits mit Gästen und mehr als 100 beglaubigten Reportern gefüllt war, auf die wenigen Plätze warteten.

Diese Reporter verrieten keine Neugierde über die Bewertung der öffentlichen Beobachter der Ereignisse, zumindest nicht die, die ich an den vielen Tagen, an denen ich anwesend war, miterlebte. In den Aufzügen und auf den Toiletten hörten ihre Scherze abrupt auf, als sie uns bemerkten. In den meisten Fällen haben ihre Meldungen die Erzählung der Anklage nachgeplappert. Die öffentliche Berichterstattung war bruchstückhaft und nach Orientierung suchend. In der Plädoyerphase hatte eine junge Frau, die Tage zuvor die Widersprüche in den Zeugenaussagen der Anklage wegdiskutiert hatte, entschieden: "Es ist ein sehr schwacher Fall." Die Nachrichtenberichte, die ich gesehen habe, haben nur seine Stärken betont. Sie erkannten das Schlusswort der Verteidigerin Donna Rotunno nicht als eine methodische Überprüfung der Beweise an, die einen Berg von Zweifeln aufkommen ließ, noch beschrieben sie das Plädoyer der stellvertretenden Staatsanwältin Joan Illuzzi-Orbon als einen abschweifenden Appell an die Emotionen, indem sie Weinstein wiederholt als 'räuberisches Monster' deklarierte, aber ansonsten Verwirrung stiftete. Stattdessen bezeichneten die Medien das Argument der Verteidigung weitgehend als Angriff auf Frauen und wichen der entscheidenden Frage aus, ob die Anklage ihren Fall bewiesen habe.

Weinstein ist mit fünf Anklagepunkten wegen sexueller Übergriffe und Vergewaltigungen konfrontiert, darunter zweien wegen sexueller Übergriffe, die ihn lebenslang ins Gefängnis bringen könnten. Die Argumentation des Staates hängt von den Anschuldigungen zweier Frauen ab: Jessica Mann, die 2013 eine aufstrebende Schauspielerin war, und Miriam Haley, die 2006 Produktionsassistentin war. Aber der Staat durfte die Anschuldigungen von vier anderen Personen vorbringen, um ein Muster schlechter Taten zu demonstrieren. Dazu gehört Annabella Sciorra, deren 27-jähriger Vergewaltigungsvorwurf, der verjährt ist, durch die Hintertür hereingekommen ist, und zwar in Verbindung mit der Behauptung jedes Hauptanklägers in den Anklagen wegen sexueller Übergriffe. Die Schauspielerin gilt als beste Zeugin der Staatsanwaltschaft. In einem drei Stunden und 20 Minuten dauernden Plädoyer verbrachte Illuzzi-Orbon die erste Stunde und 10 Minuten mit Sciorra, deren Bilder die Diashow des Staates dominierten und die anderen Frauen auf eine Statistenrolle reduzierten. Rotunno hatte die Geschworenen bestehend aus fünf Frauen und sieben Männern dazu aufgefordert, sich auf die beiden Hauptanklägerinnen zu konzentrieren, die Beweise zu studieren und ihre Rolle als ultimative Prüfer der Tatsachen zu übernehmen; Illuzzi-Orban hatte ihre Arbeit mit "gebildeten Konsumenten" verglichen. Sie können sich an dieser Degradierung stören.

Am Dienstag, dem 18. Februar, erhielten sie Anweisungen von Richter James Burke. Auch sie wurden von den Berichterstattern des Prozesses als verwirrend empfunden. Es war bald klar, dass die Geschworenen das Gleiche empfanden. Sie schickten dem Richter Fragen: Würde er ihnen schriftliche Definitionen von Begriffen in den Anklagepunkten geben? Das konnte er nicht. Müssen sie feststellen, dass der Staat bewiesen hat, dass Weinstein sowohl dem Hauptankläger im Jahr 2006 (oder 2013) als auch Sciorra im Winter 1993-94 Sex aufgezwungen hat, um einen Schuldspruch in der Anklage wegen sexueller Übergriffe zu erwirken? Ja. Könnte er erklären, wie sie Sciorra angesichts der Verjährungsfrist betrachten sollen? "Jede Angelegenheit bezüglich der Verjährungsfrist ist Sache des Richters; Sie dürfen nicht spekulieren". Sollen sie die Behauptung von Sciorra für sich allein betrachten? Nein.

Ihnen wurde gesagt, dass sie bei der Bewertung der Beweise ihren gesunden Menschenverstand einsetzen sollen. Sie haben Expertenaussagen über die Häufigkeit des fortgesetzten Kontakts einer Frau mit ihrem Vergewaltiger und über die Häufigkeit der Überarbeitung einer Erinnerung durch eine Person auf der Grundlage von Informationen nach dem Ereignis gehört. Sie haben die auffällige Übereinstimmung der Erinnerung 27 Jahre nach der Tat zwischen Sciorra und ihrer Freundin Rosie Perez gehört, aber auch von Illuzzi-Orbon gehört: "Ungereimtheiten ... sie sind das Kennzeichen der Wahrheit". Von den Zeuginnen der "bösen Taten" hatte eine Erinnerungen, die so zersplittert waren, dass die Staatsanwaltschaft sagte, sie könne nicht benutzt werden; sie trat nach 55 Besuchen bei einem Therapeuten in den Zeugenstand. Eine andere erzählte zahlreichen Reportern und ihrem damaligen Verlobten, dass sie von Weinstein drei Drehbücher für einen Dreier vorgeschlagen bekommen hatte; bei der ersten Verhandlung erinnerte sie sich, dass er sie bei einer früheren Gelegenheit befummelt hatte. Eine dritte, die ebenfalls Gedächtnisprobleme hatte und die von der Polizei über Weinsteins Genitalien verhört wurde, bis sie ihnen sagte, dass sein Penis "deformiert" sei, beschuldigte eine andere Frau, sie mit Weinstein in einem Bad eingesperrt zu haben; die andere Frau, die von der Verteidigung vorgeladen worden war, bestritt das entschieden.

Beide Hauptanklägerinnen gaben gefühlsbetonte Berichte ab, die aber auch durch andere Zeugenaussagen oder Beweise, manchmal ernsthaft, untergraben wurden. Ein Kalender, den Haley aufbewahrt hat, war mit den Worten "Ich liebe, ich liebe, ich liebe New York" bekritzelt. "Ich liebe, liebe, liebe Zeug", umgeben von gekritzelten Herzen in der Woche ihres angeblich gewaltsamen Oralsexes. Spätere Einträge, die sich auf Weinstein bezogen, hat sie gelöscht, und einige ihrer anderen Aussagen, einschließlich der düsteren Charakterisierung einer Begegnung, die zuvor als einvernehmlich beschrieben wurde, luden zu Skepsis ein, wenn sie E-Mails mit den Worten "ganz viel Liebe" oder "total entnervt, dich verpasst zu haben" gegenübergestellt wurden. Ihre damalige Mitbewohnerin sagte aus, dass sie Haley sagte: "Das klingt nach Vergewaltigung", als sie von dem angeblichen Oralsex hörte, aber sie sagte Haley auch, sie solle lieber einen Anwalt als die Polizei anrufen, tat nichts, als Haley sich weigerte, und konnte sich an keine anderen Ereignisse im Leben ihrer Freundin in der unmittelbaren Folge darauf erinnern.

Jessica Mann, die die längste Zeit im Zeugenstand verbrachte, sagte aus, dass sie die Angeklagte, ihre Freunde, ihren Freund, ihre Mutter, ihre Hellseherin und ihren Life Coach über die Jahre hinweg belogen habe, als sie in E-Mails oder aufgezeichneten Telefonaten sagte, Weinstein habe sie "wertgeschätzt", "verstehe" sie, sei "nichts als gut" zu ihr, habe ihr "ein so fabelhaftes und schönes Gefühl" vermittelt; als sie sagte, sie liebe ihn und habe "Grenzen" in der Beziehung gesetzt. Sie sagte, dass eine Freundin im Wohnzimmer der Hotelsuite wartete, während sie bedrängt und oral vergewaltigt worden sei, dass sie auf dem Boden des Schrankes dieser Freundin schlief, als sie sich entschied, nach der angeblichen Vaginalvergewaltigung eine weitere Nacht in New York zu verbringen, damit sie zu einer Vorführung gehen und am nächsten Tag Weinsteins Geburtstag feiern konnte. Die (inzwischen ehemalige) Freundin wurde von der Staatsanwaltschaft nicht in den Zeugenstand gerufen Als sie unter Vorladung der Verteidigung aussagte, widersprach sie Mann in großen und kleinen Punkten und war eine der glaubwürdigsten Zeuginnen des Prozesses. Abgesehen von Freunden des Staatsanwalts oder Mitgliedern der Staatsanwaltschaft war niemand, mit dem ich sprach, zuversichtlich, sagen zu können, wann Mann die Wahrheit sagte und wann nicht. Wenn die Geschworenen einen Zeugen in einigen Dingen für unwahrhaftig halten, können sie einen Teil oder die gesamte Aussage dieses Zeugen verwerfen. Als ich sah, wie Mann direkt befragt wurde, unvorbereitet, sich windend und scharf darauf eine Geschichte zu erzählen, die nicht erzählt werden konnte, hatte ich den Eindruck, dass die Anklage einen Akt der Grausamkeit gegen sie begangen hatte.

Wie die Geschworenen ihre Pflicht erfüllen werden, ist nicht zu erraten. Sie haben die starke Erinnerung an Frauen, die im Zeugenstand weinen, und einen Haufen die Sache komplizierender oder widersprüchlicher Materialien, wenn sie es wollen. (Ein ausgezeichneter Podcast, "The Harvey Weinstein Trial Unfiltered", zeigt die Bandbreite der Beweise, mit Auszügen wortgetreuer Zeugenaussagen von jedem Prozesstag, die von Schauspielern gelesen werden). Indem der Staat diesen Fall auf die Art und Weise vorgebracht hat, wie er es getan hat, hat er die Geschworenen jedoch auch dazu eingeladen, sich mit Fragen auseinanderzusetzen, für deren Lösung das Strafrecht ein zu stumpfes Instrument ist. Wie diese in die Beratungen einfließen, ist wiederum nicht bekannt. Sie haben sicherlich die öffentliche Diskussion angeregt.

Beziehungen. Abgesehen von der konkurrierenden und vielberühmten Rhetorik der Rechtsanwaltsteams verdient nicht die Tatsache der Beziehungen der Anklägerinnen zu Weinstein Beachtung, sondern die Qualität, die sich in der Echtzeitkommunikation widerspiegelt. Niemand außerhalb von Raum 1530 bezweifelte, dass Missbrauch und Vergewaltigung neben einer Beziehung existieren können oder dass Frauen Kontakt zu Männern aufrecht erhalten, die sie verletzt haben. Was falsch klang, war die schaudervolle Sprache der Anklage und ihre Theorie über den Tathergang, wenn sie in einen Kontrast zu der munteren, gewöhnlichen Sprache der E-Mails der Zeuginnen an Weinstein gesetzt wurde - die Frage, wie es ihm gehe, was er sich vorgenommen habe, wann er in LA oder London wäre, ob er ihre Mutter treffen kann; das Schwelgen in Erinnerungen an ihre ersten Treffen (als er angeblich unangemessen oder gewalttätig war); die Bitte um Hilfe bei Strafzetteln, bei Jobangeboten und Partyeinladungen; Auf-den-neuesten-Stand-Bringen über ein Familienmitglied, über Gefühle, Arbeit, eine Trennung von einem Freund, ihre neue Telefonnummer, die Nummern ihrer Freunde, unter denen sie auch erreichbar ist; Witze-Machen, Herumalbern vor der Kamera, "Hallo, aus Berlin!”

Jessica Mann sagte, jede E-Mail an Weinstein sei eine kalkulierte Farce ihrer eigenen Sicherheit zuliebe gewesen. Als das Gericht mit der Banalität der Nachrichten überflutet wurde, schlug sie vor, dass man den Worten nicht trauen sollte, dass sie keinen freien Willen gehabt habe, selbst als sie aus 3000 Meilen Entfernung getippt habe, selbst als sie einen Friseurjob annähme, selbst in der Zuversicht, mit der sie Beratern über ihre Beziehung zu ihrem "Klienten" erzählt hatte. Die Staatsanwaltschaft beschimpfte sie als "Stoffpüppchen", als Hinterwäldlerin vom Land, und brachte sie in eine Lage, in der sie gezwungen war, jegliche Autorität oder Verantwortung in ihrem eigenen Leben, ihren Worten, ihrem früheren Selbst, als betrügerisch zu verleugnen. "Ich versetzte mich in die Höhle des Löwen und es war aufregend ... es war ein Nervenkitzel", hatte sie 2014 an einen Freund geschrieben. Das beweist nicht, dass sie nicht vergewaltigt wurde, aber die Geschworenen müssen die Gesamtheit der Beweise berücksichtigen, und wenn sie Zweifel haben, wären diese nicht unangemessen.

Warum Menschen die Dinge tun, die sie tun, was kompliziert ist an der Verletzlichkeit und der Macht von jemandem in einer Beziehung, was wechselseitig stattfindet, wie der Verlauf der Zeit, suggestive Fragen und veränderte Umstände das, was früher akzeptabel oder vielleicht bedauerlich war, in etwas völlig Erniedrigtes und Kriminelles verwandeln können - all die Unordnung, die die Menschen aus ihrem eigenen Leben kennen, wurde nur von der Verteidigung angesprochen. Obwohl parteiisch und eng geführt, sah Rotunnos Theorie des Falles so aus, dass Sex mit Weinstein in der realen Welt eine Form des Tauschhandels war. Die Eröffnungsrede von Staatsanwältin Megan Hast fasste den Ansatz des Staates am besten zusammen: "Das waren keine gegenseitigen Beziehungen zwischen Erwachsenen.... Er war die alte Dame im Lebkuchenhaus, die die Kinder anlockte – nur der Ofen dahinter fehlte."

Scham. "Was sagt das alles über die Sexualität von Frauen aus? Über die Handlungsmacht von Frauen", rief eine Frau um die 40 während einer Pause der Befragungen aus. Entscheidend für den Fall des Staates war die Vorstellung, dass Frauen, die so schön, so perfekt geformt und unschuldig sind, sich niemals für den Sex mit Harvey Weinstein hätten entscheiden können. Er war bereits ein metaphorisches Monster und wurde im Prozess zum Monster gemacht: körperlich "deformiert", "abnormal", "intersexuell", "ekelhaft", "vernarbt", "grunzend", mit holpriger Haut, mit oder ohne Sperma, "fett", "haarig", stinkend nach "Scheiße, Entschuldigung, Kacke", ein Biest, unmännlich, unmenschlich, möglicherweise "autistisch", aber auch ein "Genie". Noch nie wurden Körperscham und die Schönheitsfalle, die "Normalitäts"-Falle, so massiv als Waffe der vermeintlich fortschrittlichen Gerechtigkeit eingesetzt. Wie ein Kollege unter den Prozessbeobachtern andeutete, erforderte die Beschämung Weinsteins zwangsläufig, dass auch seine Anklägerinnen beschämt werden mussten. Jessica Mann sagte: "Ehrlich gesagt, ich hatte Mitleid mit ihm", und sprach auch von "Verhandlungen": "Ich dachte, wir erschaffen eine Fantasie, als ob wir normalen Sex hätten." Sie sagte, sie habe sich benutzt gefühlt, gab aber auch zu, ihn benutzt zu haben. Sie deutete an, dass er ein Daddy sei, und sagte beiläufig und spät in ihrer Aussage, dass sie ein großer Fan von "Die Schöne und das Biest" wäre. In diesem Umfeld konnte sie jedoch unmöglich zugeben, dass sie in den Jahren, in denen sie eng mit Weinstein verbunden war, jemals irgendeine Anziehungskraft oder Vergnügen empfunden hätte. Dies warf Fragen auf, in der Öffentlichkeit und vielleicht auch in der Jury. Wenn er wirklich so gestört oder wegen Impotenz und so weiter verunsichert ist, hätte er dann vielleicht die Lügen glauben müssen, die Frauen ihm über ihre Liebe erzählten? Was wäre, wenn sie sich nicht wie Opfer, sondern wie Freiwillige verhalten hätten?

Komplizenschaft. Die Geschworenen können, wenn sie es wünschen, eine E-Mail vom 22. Mai 2014 einsehen, die den emotionalsten Moment des Prozesses ausgelöst hat. Jessica Mann schrieb an ihren Freund, einen Schauspieler namens Eddie, folgendes: "Ich lebte in Angst vor [Deiner] Ablehnung". Der Brief verteidigt ihre Beziehung zu Weinstein und sagt, dass er über den Wirrwarr ihres Lebens hinweg sehen konnte. Er sagt nichts Negatives über ihn. Er klagt Eddie an, weil er sie beschämt hat, weil er kein Mitgefühl oder keine Liebe hat. Es wird ein sexueller Übergriff in ihrer Jugend erwähnt. Sie weinte beim Lesen, erzählte dem Richter, dass sie eine Panikattacke hatte, und wurde schließlich für den Tag entschuldigt. Zuvor hatte sie ausgesagt, dass ihr "schlimmster Alptraum" darin bestand, dass ihre Freunde von ihr und Weinstein erfahren würden, dass sie ein "Stigma" haben würde - mit anderen Worten, dass die Industrie, die offen über Weinsteins Casting-Couch scherzte, die sich in ihrer Geschichte des sexuellen Tauschhandels sonnte, die gesehen hat, wie Legionen junger Frauen (und mindestens eine Nicht-Anklägerin, die im Prozess aussagte) Intimität für die Chance, in die intime Filmkunst einzudringen, eintauschte, dass eben jene Industrie Menschen zerstören könnte, die nach ihren ungeschriebenen Regeln leben.

Die Geschworenen wurden angewiesen, ihre Lebensrfahrung bei der Auswertung der Beweise zu nutzen. Eine von ihnen hat einen Debütroman geschrieben, der im Juli erscheint und in dem junge Frauen mit "übergriffigen älteren Männern" interagieren, so eine Beschreibung der Handlung. Während der Vorvernehmung sagte sie darüber nicht viel, und die Verteidigung versuchte, sie als Geschworene streichen zu lassen. Der Richter war anderer Meinung und stimmte am 18. Februar erneut nicht zu, als die Verteidigung sie ersetzten lassen wollte und eine Rezension des Buches vorlegte, die sie während des Prozesses über ein Buch geschrieben hatte, in der ein "abstoßender" Triebtäter vorkam. Es ist schwer zu erkennen, wie ihre kommerziellen Aussichten ihr Urteil über Weinstein nicht beeinflussen sollten. Die Verurteilung des Monsters würde ihr sofortiges Medienecho einbringen; ein Freispruch hätte wahrscheinlich negative Folgen. Andererseits ist es schwer vorstellbar, dass es nicht mindestens einen Geschworenen gibt, dem die Argumentation des Staates genauso missfällt wie einigen der Prozessbeobachter, so dass die Geschworenenberatungen in einer Sackgasse landen würden. Manche sind sich da nicht so sicher. Andere sagen, Weinstein wird freigesprochen werden.




Den neuesten Meldungen zufolge sieht es inzwischen tatsächlich so aus, dass sich die Geschworenen nicht einig werden: "Kommt die Jury tatsächlich zu keiner einstimmigen Entscheidung in allen Anklagepunkten gegen Weinstein, könnte der Prozess platzen und müsste wohl neu aufgerollt werden."

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