Samstag, März 12, 2016

Gastbeitrag: Wie Wissenschaftler die Benachteiligung von Jungen ausblenden

Einer meiner Schweizer Leser, der anonym bleiben möchte, hat mir einen Brief geschrieben, der von Umfang und Inhalt her einem Gastbeitrag gleichkommt. Die folgende Analyse zeigt anschaulich, wie in der feministischen Gesellschaft bereits die Perspektive, mit der Forscher sich einer Fragestellung widmen, zu Lasten des männlichen Geschlechts geht. (Ich habe die in dieser Analyse aufgeführten Zitate natürlich nicht selbst überprüft.)

Vor kurzem stolperte ich per Zufall über eine sehr umfangreiche Studie (~ 400 Seiten) mit dem Titel "Schreiben von Kindern im diachronen Vergleich" von Wolfgang Steinig et al. aus dem Jahr 2009. Die Autoren verglichen die Schreibkompetenz von Primarschülern von 1972 und 2002 unter Bezugnahme auf Variablen wie soziale Schicht, Alter, Zweisprachigkeit und Geschlecht. Die Studie ist äusserst interessant und lesenswert, gerade weil sie so detailliert und umfangreich ist. Die Resultate, besonders was den Faktor "Geschlecht" angeht, bestätigen, was jeder weiss, der schon Studien oder andere Veröffentlichungen in diesem Themengebiet gelesen hat: in nahezu allen der mehreren Dutzend untersuchten Sprachvariablen, schneiden die Jungs 1972 besser ab als die Mädchen, 2002 aber schlechter. Besonders bemerkenswert finde ich jedoch in diesem Fall auch, wie die Autoren die Daten präsentieren und interpretieren. Darum habe ich hier einige Textstellen herausgepickt und kommentiert:

"Diese vergleichsweise schlechten Ergebnisse für Jungen im Lesen haben in Teilen der Pädagogik dazu geführt, das männliche Geschlecht, neben niedrigem sozialen Status und Migrationshintergrund, als Risikofaktor zu sehen. Als Grund für diese Entwicklung werden keine biologischen Ursachen angenommen, sondern psychologische und gesellschaftliche, da die Differenz kaum noch bei Jungen und Mädchen festzustellen ist, die ähnlich viel und gerne lesen." (S. 68)

Hier war ich noch zufrieden. Diese Ausführung findet sich in der Methodik und sie schildert neutral einen Sachverhalt. So weit so gut. Im Resultatteil sieht die Sache dann aber doch wieder etwas anders aus:

"Grundsätzich stellen sich beim 'Geschlecht' immer zwei Fragen: Lässt sich eine, in zahlreichen Untersuchungen beobachtete sprachliche Überlegenheit von Mädchen bestätigen? Und: Haben sich geschlechtsspezifische Unterschiede seit der ersten Erhebung verstärkt oder abgeschwächt? [...] In Texten von Mädchen fanden sich 1972 etwas dreimal häufiger Kohärenzbrüche als bei Jungen! 2002 ergaben sich hingegen keine nennenswerten Unterschiede. Das in den älteren Daten deutlich schlechtere Abschneiden der Mädchen steht im Einklang mit ihrer Bildungsbenachteiligung in den 1970er Jahren, aber im Widerspruch zu dem in zahlreichen Untersuchungen bestätigten Befund einer sprachlichen Überlegenheit von Mädchen." (S. 165)

Man stellt fest: Sind Mädchen schlechter, dann ist das aufgrund einer Bildungsbenachteiligung. Worin die bestanden haben soll, wird allerdings nicht erläutert, schliesslich gingen die Mädchen 1970 in die selbe Schule und waren in derselben Klassenstufe wie die Jungen, aber nun gut, mag ja sein. Sind aber die Jungen schlechter, wird nicht mehr von Bildungsbenachteiligung gesprochen, Methodik-Teil zum Trotz, denn dann ist es einfach die "sprachliche Überlegenheit" der Mädchen. Diese Wortwahl findet man übrigens mehrfach, aber ausschliesslich, wenn es um das Geschlecht geht. Bei keinem anderen Faktor wird von Überlegenheit gesprochen. Man kann sich vorstellen, was für Reaktionen eine Formulierung wie "Die Kinder aus der Oberschicht besitzen gegenüber den Kindern aus der Unterschicht eine sprachliche Überlegenheit." in der politisch korrekten Akademikerwelt hervorrufen würde.

Zum Verständnis: Die Schreibaufgabe der Kinder bestand darin, die Handlung eines Filmes nachzuerzählen. In diesem Film klaut eine Gruppe von Jungen einem Mädchen die Puppe und spielt damit, bis eine Erwachsene kommt und dem Treiben ein Ende setzt.

"Wir vermuten, dass Mädchen eher die Komplikation markieren als die Jungen, da ihnen dieses erzählerische Element als eifrigeren Lesern von Kindergeschichten besser vertraut ist. [...] Unsere Vermutung hat sich nicht bestätigt. Sowohl 1972 wie 2002 haben Jungen etwas häufiger die Komplikation markiert als Mädchen. Dieses erstaunliche Ergebnis ist vermutlich dem Umstand geschuldet, dass in unserem Film Jungen die Initiative ergreifen und ein Mädchen überfallen. Dieser Überfall ist aus männlicher Perspektive möglicherweise erzählwürdiger, da hier einem Mädchen ein Streich gespielt wird, den wohl Jungen interessanter und lustiger finden als Mädchen, da ein Mädchen die Opferrolle übernehmen musste." (235)

Spätestens hier stellt man fest, dass die Autoren durch einen starken Confirmation Bias geprägt sind. Sind nämlich ausnahmsweise einmal Jungen besser, ist keine Rede von besseren Fähigkeiten oder gar Überlegenheit. Vielmehr muss das erstaunliche Resultat in die Erwartungsschablone gepresst werden. Und wie könnte man das besser, als mit dem alten Männertäter/Frauenopfer-Schema? Dass das Geschlecht der Handelnden innerhalb des Filmes die Ergebnisse beeinflussen könnten, wird ansonsten nirgends problematisiert. Nur hier, weil die Jungen für einmal besser sind und das nicht sein darf.

"Wir vermuten einen geschlechtsspezifischen Bezug, da das Setzen von Doppelpunkten nicht nur auf einer Lernerfahrung beruht, sondern auch auf Sorgfalt und Genauigkeit - Eigenschaften, die man gemeinhin Mädchen häufiger unterstellt als Jungen. [...] Sowohl Jungen wie Mädchen setzen 2002 häufiger korrekt einen Doppelpunkt, aber in beiden Jahrgängen sind die Fehlerraten bei Mädchen geringer als bei Jungen. Die geschlechtsspezifischen Unterschiede haben sich jedoch deutlich verstärkt: Mädchen konnten ihren Vorsprung vergrössern." (S. 313)

Achten wir auch hier auf die Wortwahl: "Mädchen konnten ihren Vorsprung vergössern". Gut gemacht, Mädchen! Eine Formulierung, die umgekehrt kaum denkbar wäre. Auch nicht, wenn man von anderen Variablen, wie bspw. sozialer Schicht oder Schulempfehlung spricht. Es fällt nämlich auf, dass die Autoren in den Abschnitten, in denen es um das Geschlecht geht, viel (ab)wertender sind als bei anderen Variablen. Zum Vergleich hier der Abschnitt zur Schulempfehlung:

"Aufgrund der hohen Schichtabhängigkeit für das Setzen von Doppelpunkten vermuten wir, dass sich auch für die Schulempfehlung ein eindeutiger Bezug in den Daten zeigt. [...] Wie vermutet, ergibt sich für das korrekte Setzen von Doppelpunkten ein eindeutiger Bezug zum mehrgliederigen System der Sekundarschule. Die Mittelwerte sind für beiden Jahrgänge deutlich abgestuft, sie liegen 1972 jedoch näher zusammen als 2002. Der Wert für das Gymnasium liegt mit 75.4 Prozent um die Hälfte über dem Wert für die Hauptschule mit 46.2 Prozent[...]." (S.313)

Hier ist keine Rede von Sorgfalt und Genauigkeit, die man gewiss Schülern mit einer besseren Schulempfehlung auch attestieren könnte. Es wird kein Vorsprung von angehenden Gymnasiasten festgestellt. Nein, es wird einfach wertfrei konstatiert, was da ist. Wenn es um Mädchen geht, dann überschlagen sich die Autoren geradezu vor Freude über all die guten Eigenschaften: "weiter entwickelte textuelle Fähigkeiten" (S. 156), "Bemühen stärker, die Schreibaufgabe [...] besonders gut zu erfüllen" (S. 157), "höher entwickelte Schreibkompetenzen" (S.194), "mehr Ausdauer und Pflichtbewusstsein" (S. 227), "besser dazu fähig [...] innere Zustände zu formulieren" (S. 239), "grössere Achtsamkeit" (S. 308), "Sorgfalt und Genauigkeit" (S. 313). Solche Formulierungen findet man nur, wenn es um das Geschlecht geht, und fast immer kommen die Mädchen besser weg.

"Erstaunlich ist, dass beide Geschlechter 1972 auf einem vergleichbar niedrigen Niveau liegen, 2002 jedoch die Anzahl fehlerhafter Satzkonstruktionen in Texten von Jungen auf mehr als das Dreifache ansteigt, während Mädchen das niedrige Niveau von 1972 einigermassen halten konnten. Dieser aussergewöhnliche Anstieg [...] ist besorgniserregend. Er liesse sich aber nicht als ein grundlegendes geschlechtsspezifisches Phänomen deuten, da Jungen ja zu wesentlich besseren syntaktischen Leistungen fähig sind, wie die Daten von 1972 zeigen. Man müsste diese grammatisch nicht akzeptablen Konstruktionen wohl als ein Performanzproblem deuten, das vielleicht durch mangelnde Aufmerksamkeit und Leistungsbereitschaft bei Jungen erklärt werden könnte." (S. 343)

Na klar, wenn die Jungen schlechter sind, dann sind sie selber schuld, weil sie unaufmerksam und zu faul sind. Da muss man sich nicht wurden, wenn sich an der aktuellen (man bedenke auch, die neueren Daten sind fast 14 Jahre alt) Jungenkrise nichts ändert: Sogar Wissenschaftler, die das Phänomen untersuchen, weigern sich standhaft auszusprechen, was augenscheinlich ist: Jungen leiden in der Schule. Jungen werden benachteiligt. Man steckt sie in Schubladen wie "unaufmerksam" und "nicht leistungsbereit" und vergisst sie dann dort.

Ich belasse es hierbei. Weitere Beispiele aufzugreifen, würde jeglichen Rahmen sprengen. Wer sich für die Studie interessiert, wird sie bestimmt in einer lokalen Bibliothek finden.

Zum Abschluss aber noch Folgendes:

"Wir möchten schliesslich noch eine aus geschlechtsspezifischer Perspektive interessante Beobachtung zu einer Szene im Film hinweisen. Bei dem Versuch des Mädchens seine Puppe zu erhaschen, kommt es zu einem Kampf mit einem Jungen. In diesem Kampf ist das Mädchen überlegen. Es gelingt ihm, den Jungen auf den Boden zu drücken. Seine körperliche Überlegenheit widerspricht dem Rollenklische vom 'schwachen Geschlecht'. Wir hatten erwartet, dass diese Szene von Mädchen häufiger erwähnt wird als von Jungen, vor allem in 2002. Merkwürdigerweise hat aber kein einziges Kind, weder 1972 noch 2002 diese Szene thematisiert. [...] Sie wurde offenbar ausgeblendet, weil es dem Mädchen trotz seiner körperlichen Überlegenheit nicht gelingt, dem Jungen die Puppe zu entwenden. [...] Da ein körperlich überlegenes Mädchen im Erzählschema keine Funktion hat, können sich Zuschauer an diese Szene am Ende des Filmes nicht mehr erinnern - nicht nur Kinder, auch Erwachsene, denen wir diesen Film gezeigt haben."

Ich habe da eine ganz andere Theorie: Vielleicht interessieren sich Zehnjährige auch einfach nicht dafür, dass genderbewusste Akademiker von ihnen das Reflektieren von Geschlechterrollen erwarten. Wie es aussieht, ist das bei Erwachsenen nicht anders. Das schreit geradezu nach höheren Beiträgen für die Genderstudies. Dieses frauenverachtende Patriarchat muss um jeden Preis vernichtet werden!

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