Freitag, Mai 26, 2023

Thema des Tages in der NZZ: "MeToo als Geschäftsmodell"

1. Nachdem Anja Reschke in ihrer Sendung Vorwürfe gegen den ehemaligen Bild-Chef Julian Reichelt löschen musste, schrieb ich hier auf Genderama:

Der deutsche Feminismus hat (…) immer noch nicht seinen Vorzeige-MeToo-Fall gefunden, nachdem die Vorwürfe gegen den Regisseur Dieter Wedel wegen dessen Tod nie geklärt werden konnten und bei Luke Mockridge die Staatswanwaltschaft keinerlei Grund sah, Ermittlungen aufzunehmen. Allein Til Schweiger ist als Möglichkeit übrig geblieben, ein Exempel zu statuieren.


Heute widmet sich die Neue Zürcher Zeitung in dem Artikel #MeToo als Geschäftsmodell: Mutmasslich und angeblich ist dieser Mann ein besoffener Gott (Bezahlschranke) der Weise, wie unsere Leitmedien über derartige Fälle berichten:

Der "Spiegel" und auch die "Zeit" haben sich auf solche Geschichten spezialisiert, die oft wie nach einem Baukastensystem gemacht sind.


Statt diejenigen, die Beschuldigungen gegen einen Mann erheben, namentlich zu nennen, werde in solchen Beiträgen eine Masse anonymer Beschwerdeführerinnen ins Feld geführt.

"Vögeln, fördern, feuern" lautete der «Spiegel»-Titel von 2021 zu einer grossen Recherche zu Julian Reichelt, dem ehemaligen "Bild"-Chefredaktor. Die Schlagzeile war ein Zitat. So beschrieben Mitarbeiter intern das "System Reichelt", hiess es im Text. Die Enthüllungen zu Til Schweiger von 2023 liefen unter dem Titel: "Sie nennen ihn ‹Imperator›". Beide Überschriften wären kaum zustande gekommen, hätte jemand namentlich dafür geradestehen müssen.

Das Mitleid mit den Schweigers und Reichelts dieser Welt hält sich in sehr engen Grenzen, und doch befällt einen ein Unbehagen, wenn man sieht, wie diese #MeToo-Geschichten gemacht sind, die ausserdem oft nicht halten, was sie versprechen. Aber hier fängt es schon an, die Recherchen wollen gar nichts versprechen, zumindest lassen sich die Autoren immer eine Hintertür offen: Vielleicht war ja auch alles anders. Meist kündigt bereits der Untertitel an, dass es sich lediglich um "mögliche Verfehlungen" handelt und auch die Betroffenen nur "mutmassliche Betroffene" seien. Damit sichern sich die Medien rechtlich ab, aber nicht nur: Sollten sich später anonyme Beschuldigungen als falsch erweisen, können sie immer noch behaupten, dass sie in ihrer Berichterstattung an der Unschuldsvermutung festgehalten haben.

Dabei ist die Unschuldsvermutung eine Fiktion. Der inflationäre Gebrauch des Konjunktivs ein Tarnmanöver. Bereits mit Kontextualisierungen wie #MeToo und dem für diese Geschichten genretypischen Hinweis auf den Filmproduzenten und Vergewaltiger Harvey Weinstein findet die Vorverurteilung statt. Die neuen #MeToo-Männer werden von den Medien auf Weinsteins Schultern gestellt, egal wie unterschiedlich die Fälle liegen: Dieter Wedel, Luke Mockridge, Julian Reichelt, Johann König, Finn Canonica et cetera.

Im Grunde agieren die Aufdeckungsjournalisten ähnlich wie die Witwenschüttler im Boulevard. Man macht Opfer-Journalismus, geht ganz nahe ran, kreiert emotionale, schockierende Schlagzeilen und versucht das Publikum aufzurütteln. Wie die Boulevard-Medien legitimieren auch die sogenannten Qualitätsmedien ihr Vorgehen mit dem guten Zweck. Der Einzelfall, liest man oft, steht nicht für sich allein, sondern für ein "toxisches System" in der Medien- oder der Kulturbranche. Die moralischen Werte der Witwenschüttler blieben stets zweifelhaft, anders ist es mit denen der Qualitätsjournalisten. Sie werden von einer aktivistischen Basis getragen, die den Hinweis #MeToo als ein Gütesiegel von Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit liest.

Anschauungsunterricht bietet die jüngste "Spiegel"-Recherche zu Til Schweiger. Mit mehr als fünfzig Personen habe das Magazin geredet, heisst es im Artikel. Sie berichten von "mutmasslicher Schikane und Gewalt bei einem Filmdreh". Im Bericht liest man, dass Schweiger herumgeschrien, Menschen beschimpft habe, oft betrunken war und einem Mitarbeiter ins Gesicht geschlagen habe. Es folgt der obligate Klimabericht: Unter Schweiger herrsche ein "Klima der Angst", schreibt der "Spiegel". Dann wird die Figur des allmächtigen Mannes eingeführt: "Er könne Karrieren fördern und beenden." Zweite Stimme: "Er war der Gott, dem alle gehorchten."

Weiter illustriert wird das mit anonymen Figuren, die perfekte, mediengerechte Zitate abliefern: "Das Set war eine einzige Wolke aus Angst, gefühlt hat sich niemand getraut zu atmen", heisst es. Der "Spiegel" zieht die Atem-Thematik darauf gekonnt weiter. Zu einer Frau am Set soll Schweiger gesagt haben: "Er entscheide, wann sie atme." Allerdings schränkt der "Spiegel" ein, habe Schweiger dies nur "sinngemäss" gesagt, und auch dies sei nicht sicher: "Überprüfen lässt sich diese Schilderung nicht." Abgeschmeckt wird das Ganze mit dem Zitat einer weiteren Person: "Im Grundgesetz heisst es, die Würde des Menschen ist unantastbar. Nicht an den Sets von Til Schweiger."

Viele dieser Zitate sind lediglich Stimmungsberichte, sie vermitteln ein subjektives Empfinden. Straftatbestände beschreiben sie eher nicht, aber sie dienen dazu, den Protagonisten zu diskreditieren. Beim Leser haben sie den Effekt: Einer, der so etwas sagt oder sich so benimmt, der macht vermutlich auch noch anderes. Allein, ein Ekelpaket zu sein, ist noch nicht justiziabel.

In vielen #MeToo-Texten thematisieren die Journalisten denn auch ihre Skrupel, um sich allerdings gleich selbst zu beschwichtigen: Es ist zwar etwas grenzwertig, was wir tun, aber es ist für einen guten Zweck, und nur so ändern wir das System. Auch den "Spiegel" befallen angesichts der Indiskretionen bei Til Schweiger angeblich Gewissensbisse. So habe man lange abgewogen, ob man über "Schweigers mutmasslichen Alkoholkonsum" berichten wolle. Wie die Publikation zeigt, konnte man sich dann doch überwinden, weil der mutmassliche Alkoholkonsum auch zur Gefährdung von Mitarbeitern führe. Schliesslich schildert der "Spiegel", dass sich am Set ein Unfall ereignet habe. Eine Mitarbeiterin zog sich einen Knöchelbruch zu.

Mit so einer Publikation ist die Berichterstattung aber nicht abgeschlossen. Sie fängt erst richtig an. Anwälte dementieren, Verantwortliche streiten die Vorfälle erst ab, um später manches dann doch zuzugeben. Schauspielerinnen geben Interviews, in denen sie erklären, dass dies alles System habe. Experten, Psychologen werden in Stellung gebracht und natürlich auch Politikerinnen. "Spiegel"-Frage an die deutsche Kulturministerin: "Frau Roth, der «Spiegel» hat öffentlich gemacht, dass am Set von Til Schweigers Film ‹Manta Manta – Zwoter Teil› ein Klima der Angst geherrscht haben soll. Nun hat Constantin-Film eine Aufklärung der Vorfälle angekündigt. Ist der Fall damit für Sie abgeschlossen?" Roth: "Nein."

Die Kulturministerin verlangt eine "lückenlose Aufklärung" und sagt: "Die Zeiten patriarchalischer Macker sollten wirklich vorbei sein." Und die Freude beim "Spiegel" ist gross: So habe die Berichterstattung zu einer "über die einzelne Produktion hinausgehende Diskussion um die Arbeitsbedingungen an deutschen Filmsets und Machtmissbrauch von Regisseuren geführt". Til Schweiger war nur ein Vehikel für eine grössere Debatte. Vermutlich trifft es ihn nicht ohne Grund, aber es hätte auch einen anderen treffen können, der am Set schreit, unter Zeitdruck arbeitet und schon einmal eine Ohrfeige verteilt hat. Während die Berichterstattung weitergeht, wird der ursprüngliche Artikel oft kürzer – Passagen müssen gestrichen werden. Dafür wird die Fussnote am Ende des Textes immer länger. Die Arbeit der Anwälte im Hintergrund macht sich bemerkbar.

Diese Art Geschichte ist zum Geschäftsmodell geworden. Sex, Macht, Missbrauch und ein bekanntes Gesicht verkaufen sich gut. Die Artikel erzeugen Aufmerksamkeit und lassen sich auch von den anderen Medien nicht ignorieren. Ob sie den Skandal reproduzieren oder versuchen, die Luft rauszulassen, sie potenzieren die Aufregung.

Die Medien statuieren ein Exempel und inszenieren eine Ersatzjustiz. Dass am Ende jemandem Gerechtigkeit widerfährt, darf man in den meisten Fällen nicht hoffen. Das liegt auch daran, dass die Medien die Chiffre #MeToo mittlerweile selbst pervertieren. Schon verhältnismässig kleine Vorkommnisse werden in eine direkte Relation zu Weinstein gesetzt und damit dramatisiert. So etwa im Falle der Journalistin Anuschka Roshani, die ebenfalls im "Spiegel" auspackte unter dem Motto "#MeToo im Schweizer Journalismus". Tatsächlich handelt es sich um einen diffusen Fall von Mobbing am Arbeitsplatz.

Wenn man eine Zwischenbilanz ziehen müsste, wäre sie diese: Die Berichterstattung hat allen Beteiligten geschadet – dem ehemaligen Vorgesetzten Finn Canonica, der Anklägerin Roshani und dem "Spiegel", der sich für die Enthüllung hergab. Die Wahrheit? Weiterhin unklar. Der Ruf? Hat von allen gelitten. Aber wen kümmert es? Viele Journalisten sind von der Verantwortung für die gesamte Gesellschaft so beseelt, dass sie in ihren Geschichten das Individuum opfern.

(…) Was wird einmal von der Til-Schweiger-Geschichte in Erinnerung bleiben? Vermutlich dies: Ein Regisseur hat ein Alkoholproblem und brüllt am Set herum. Und wenn doch nicht alles stimmt? Tja, für diesen Fall hat der "Spiegel" ja klar und deutlich geschrieben: Mutmasslich. Dann war es nur mutmasslich.


Manch einer mag sich nach so einer Form von Berichterstattung fragen, wie "das Klima" eigentlich in der Redaktion des "Spiegel" selbst aussieht.

Mutmaßlich alles andere als gut.



2. In den USA ist ein MeToo-Fall erst mal gefloppt:

Mehr als 50 Jahre nach dem Kinostart von "Romeo und Julia" hatten die beiden Hauptdarsteller wegen einer Nacktszene die Produktionsfirma auf eine Millionenentschädigung verklagt. Doch zum von ihnen angestrebten Prozess im Bundesstaat Kalifornien wird es nicht kommen: Ein Gericht in Los Angeles wies die Klage am Donnerstag ab. (…) Die Richterin stellte fest, dass die Szene durch den ersten Verfassungszusatz geschützt sei, da die Schauspieler "keine Beweise dafür vorgelegt haben, dass der Film hier als ausreichend sexuell anzüglich angesehen werden kann, um ihn als endgültig illegal zu betrachten".


Nach 50 Jahren ... Irgendwann verklagt noch mal jemand Shakespeare selbst.



3. Britische Polizeichefs haben die erste offizielle Bewertung der Gewalt gegen Frauen und Mädchen im Vereinigten Königreich veröffentlicht, in der sie diese Straftaten mit Terrorismus und schwerer organisierter Kriminalität gleichstellen.



4. Die britische Tageszeitung "The Herald" fordert in Schottlands Parks Zeiten, in denen nur nur Frauen als Besucher zugelassen sind.



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