Studentin weigert sich zu gendern, Maskuzid in Interlaken, "Times" erklärt Feminismus für gescheitert
1. Die Schweizer Zeitung "20 Minuten" berichtet über Sarah Regez, die an der Uni Basel Politikwissenschaften und Recht studiert und bei den dort kürzlich eingeführten "Regeln zu einer inklusiveren Sprache" nicht mitmachen möchte.
2. In derselben Zeitung findet man einen Artikel über den Beginn des Verfahrens gegen die ehemalige Boxweltmeisterin Viviane Obenauf, die ihren Ehemann mit dem Baseballschläger totgeprügelt haben soll. Die Indizien sind erdrückend – und es gibt auch eine Vorgeschichte:
Wer sich die TV-Beiträge über sie anschaut, erlebt eine Frohnatur mit Dauerlächeln, ein Energiebündel mit unerschütterlichem Optimismus. Doch die Beschuldigte hatte offenbar noch ein anderes Gesicht: Diverse Befragte beschreiben sie als impulsiv und gewalttätig. Ein früherer Lebenspartner gab an, dass sie ihm vier- oder fünfmal ins Gesicht geschlagen hatte. In London wurde sie 2017 festgenommen, nachdem sie zwei Männer verprügelt hatte – einer von ihnen soll sie belästigt haben.
3. "Seit wann ist Feminismus zum Schimpfwort geworden?" fragt die Londoner "Times" in einem langen Lamento:
Kommen Sie mit mir auf eine Reise durch Zeit und Raum in ein nicht mehr wiederzuerkennendes Land namens ... vor zehn Jahren. Damals, im Jahr 2012, war der Feminismus der heiße neue Trend, so heiß, dass er sogar seine eigene Welle bekam: die vierte Welle. Die "Times"-Kolumnistin Caitlin Moran hatte im Jahr zuvor ihre Memoiren und ihr Manifest "How to Be a Woman" veröffentlicht, und Verlage in den USA und im Vereinigten Königreich gaben eifrig ähnliche Bücher von jungen Frauen mit Laptops und Meinungen zum Thema Abtreibung in Auftrag, mit Titeln wie "Sex Object: A Memoir" und "The Vagenda". Weibliche Prominente, die früher auf Fragen zum Feminismus reagierten, als ob man sie nach ihrem letzten Abstrich gefragt hätte, konnten plötzlich gar nicht genug über Dinge wie das Lohngefälle und Body Shaming reden.
In den nächsten Jahren bloggten und twitterten Frauen über ihre Erfahrungen mit sexuellen Übergriffen; offline trugen männliche Politiker T-Shirts mit Slogans wie "So sieht ein Feminist aus", und von Primark bis Dior verkaufte jeder T-Shirts mit feministischen Logos. Als die "New York Times" 2017 einen Artikel veröffentlichte, in dem der Filmproduzent Harvey Weinstein beschuldigt wurde, Frauen sexuell belästigt zu haben, erlangte die #MeToo-Bewegung weltweite Bekanntheit, und prominente Männer wurden wegen sexueller Belästigung und Übergriffen angeklagt. Der einzige Weg, wie der Feminismus noch mehr in den Mainstream und in die breite Öffentlichkeit gelangen konnte, war, ihn zu verflüssigen und in einen Frappuccino zu verwandeln. Echte Veränderungen, so schien es vielen Frauen, würden stattfinden.
Nun, es gab einen echten Wandel, aber nicht in der Richtung, die viele von uns erwartet hatten. Wenn man jetzt im Jahr 2022 hier steht und auf die Trümmer des Feminismus der vierten Welle blickt, ist es schwer, nicht völlig verzweifelt zu sein angesichts der großen und kleinen Anzeichen für das völlige Scheitern der Bewegung.
Hier geht es schlechtgelaunt weiter. Folgende Gründe für das Scheitern des Feminismus werden im Verlauf des Beitrags genannt:
a) ein frauenfeindlicher Backlash,
b) starker Einfluss anderer politischer Strömungen wie Black Lives Matter und die LGBT-Bewegung,
c) eine zu starke Kommerzialisierung,
d) dass Slogans wie "glaubt den Frauen!" sich arg mit der rechtsstaatlich garantierten Unschuldsvermutung beißen,
e) eine bizarre Unfähigkeit mancher Feministinnen, Kritik anzunehmen.
Aber es gebe Hoffnungszeichen, schreibt die "Times": etwa dass Joanne K. Rowling zur zweitbeliebtesten Autorin Großbritanniens gekürt worden sei. Yay, Feminismus!
Der Artikel wirkt auf mich wie ein nett angerichteter Gedankensalat, aber das muss wohl an mir liegen, schließlich handelt es sich um die altehrwürdige Londoner "Times". In den letzten Absätzen des Beitrags heißt es:
Man hat das Gefühl, dass sich Frauen wieder zu Wort melden, nachdem sie in den letzten Jahren wegen ihres unverzeihlichen weiblichen Privilegs zum Schweigen gezwungen wurden. Die Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie - die in der Vergangenheit dafür kritisiert worden war, dass sie es gewagt hatte, zu sagen "Transfrauen sind Transfrauen", anstatt das Mantra "Transfrauen sind Frauen" nachzuplappern - hat dieses Gefühl in ihrer Reith Lecture letzte Woche perfekt eingefangen. Ihr Thema ist die Redefreiheit, und es ist ein lauter Ruf nach Mut, Ehrlichkeit und Pluralität: "Diese neue gesellschaftliche Zensur verlangt einen Konsens und ist dabei vorsätzlich blind für ihre eigene Tyrannei. Sie bedeutet den Tod der Neugierde, den Tod des Lernens und den Tod der Kreativität", sagt sie. Es ist auch der Tod der Demokratie, der Gleichheit und des kritischen Denkens. Für all diese Dinge steht der Feminismus, und er wird nicht zum Schweigen gebracht werden.
Chimamanda Ngozi Adichies aktuellem Vortrag gegen die Cancel Culture stimmen Liberale übrigens begeistert zu. Die Süddeutsche Zeitung fasst seine wichtigsten Gedanken so zusammen:
Die Welt habe sich, heißt es in Adichies Vortrag, in "ideologische Stämme" aufgeteilt - wer ausschert, werde in sozialen Medien abgestraft. "Barbarei", findet Adichie: "Es ist die Aktion einer virtuellen Bürgerwehr, deren Ziel es ist, nicht nur die Person zum Schweigen zu bringen, sondern eine racheschnaubende Atmosphäre zu schaffen, die andere vom Sprechen abbringt." Und sie geht noch weiter: "Es ist etwas Ehrliches an einem Autoritarismus, der sich selbst erkennt, als was er ist. Man kann ein solches System leichter bekämpfen, weil die Kampflinien klar gezogen sind. Die neue soziale Zensur aber verlangt einen Konsens, der voller Absicht blind bleibt für seine eigene Tyrannei." Das sei das Ende der Neugier und Kreativität.
Schade, dass sich bei der Londoner "Times" niemand Gedanken darüber macht, ob nicht auch der Feminimus einer dieser autoritären Stämme ist, der abweichende Stimmen zum Schweigen bringt.
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