Mittwoch, Juli 06, 2022

Familienpolitikerinnen der CDU verweigern Gespräche – News vom 6. Juli 2022

1. In seinem aktuellen Newsletter berichtet das Forum Soziale Inklusion:

Die CDU-Familienpolitikerinnen Silvia Breher MdB (Sprecherin der Bundestagsfraktion) und Dr. Katja Leikert MdB (Obfrau im Familienausschuss des Bundestages) verweigern weiterhin Gespräche mit dem Forum Soziale Inklusion.

Möglicherweise ist dies auf die Tatsache zurückzuführen, dass beide Politikerinnen seit 2022 Mitglied in der neugegründeten "Bundesstiftung Gleichstellung" geworden sind. In der Bundesstiftung sind vor allem Frauen- und Queerverbände prominent vertreten. Verbände, die sich für Frauen und (heterosexuelle) Männer, Mütter und Väter einsetzen, fehlen.

Das Forum Soziale Inklusion nimmt seit über zehn Jahren regelmäßig Gespräche mit Damen und Herren Abgeordneten aller im Bundestag vertretenen Parteien wahr; aus Familien-, Rechts-, Sozial-, Haushalts-, Finanzpolitik. Noch nie wurden Gespräche kurzfristig abgesagt. Frau Breher und Frau Leikert taten dies mehrfach.


Aus demselben Newsletter erfährt man:

Der Wissenschaftliche Beirat für Familienfragen im BMFSFJ verteidigte in der Veranstaltung vom 15. Juni 2022 das in seinem Gutachten "Gemeinsam getrennt Erziehen" vorgestellte "Stufenmodell" zur Regelung der proportionalen Aufteilung von Kindesbarunterhalt zwischen den Trennungseltern im Verhältnis zu den jeweiligen Betreuungsleistungen.

An der Videokonferenz nahmen Vertreter der Exekutive (BMJ, BMFSFJ) sowie ein große Zahl von Verbänden und Lobbyorganisationen teil.

Das Forum Soziale Inklusion war vom Beirat zur Teilnahme an der Videokonferenz geladen und aufgefordert worden, vorab Fragen an die Damen und Herren Mitglieder des Beirats zu stellen.

Das Forum Soziale Inklusion stellte in fünf Fragen die Widersprüchlichkeiten und willkürlichen Ungleichbehandlungen der Eltern im vorgestellten "Stufenmodell" dar.

Frage 6 thematisierte die politischen Verquickungen: Eine möglicherweise zu große Nähe von Mitgliedern des Beirats zu einseitig ausgerichteten Lobbyverbänden.

Frau Prof. Sabine Walper vom Deutschen Jungendinstitut (dji) referierte ca. 45 Minuten über die Hintergründe des von ihr favorisierten "Stufenmodells".

Frau Prof. Michaela Kreyenfeld beschrieb deutlich die Grenzen der Aussagekraft des Gutachtens ("Datenlage zu gering"), benannte logische Widersprüche und kommentierte: "Wir haben uns schwer getan …". Frau Prof. Margarete Schuler-Harms stellte vor allem im Hinblick auf die künftige Kindergrundsicherung in zutreffender Weise fest: "Das Gutachten ist nicht auf dem neuesten Stand".

Bedauerlicherweise thematisierten die Professorinnen nicht die vom Forum Soziale Inklusion gestellten Fragen (Moderation: Prof. Dr. Jörg Fegert).

Das Forum Soziale Inklusion sieht einen deutlichen Bruch zwischen dem Analyseteil des Gutachtens und dem als Lösung vorgestellten "Stufenmodell" des Beirats: Das "Stufenmodell" löst den Anspruch des Titels "Gemeinsam getrennt Erziehen" in weiten Teilen nicht ein.


Hier findet man die vom Forum Soziale Inklusion gestellten Fragen.



2. Zum unterbundenen Vortrag einer feministischen Biologin an der Berliner Humboldt-Universität nahm inzwischen Bernhard Kempen, Präsident des Deutschen Hochschulverbands, Stellung: "Boykott, Bashing, Mobbing oder gar Gewalt dürfen keinen Erfolg haben",. In Universitäten müsse "jede Wissenschaftlerin und jeder Wissenschaftler ihre und seine Forschungsergebnisse, Thesen und Ansichten ohne Angst zur Diskussion stellen können."

Die Frankfurter Allgemeine berichtet über weitere Entwicklungen:

Der CDU-Abgeordnete Adrian Grasse stellte dem Berliner Senat derweil eine Kleine Anfrage, die nachhakt, ob die behauptete Gefahr auch wirklich bestand und die Berliner Hochschulen noch in der Lage seien, die Wissenschaftsfreiheit zu schützen. Aufgegeben hat die Universität ihren Plan, Vollbrecht bei dem Nachholtermin mit Transgruppen und Mitgliedern der Studentenvertretung zu konfrontieren, also ausgerechnet jenem Gremium, das ihre moralische und wissenschaftliche Integrität an­gezweifelt hatte. Der „Arbeitskreis kritischer Jurist*innen“ setzt unterdessen seine Schmutzkampagne fort. In einer Stellungnahme begrüßt er die Absage und wirft Vollbrecht ein weiteres Mal argumentfrei Transfeindlichkeit und Unwissenschaftlichkeit vor.


In einem weiteren Beitrag der Frankfurter Allgemeinen heißt es:

Es geht ja im Fall der Berliner Humboldt-Universität nicht um die Abwehr einer Verfassungsfeindin, die unter dem Deckmantel der Wissenschaft die heiligen Hallen der Freiheit nutzt. Sondern um eine Angestellte der Universität selbst, die sich in einer „Langen Nacht der Wissenschaft“ zu einem kontro­versen Thema äußern wollte. Wer hier "Sicherheitsbedenken" geltend macht, gibt jedem Störer die Möglichkeit, Grundrechte auszuhebeln – und handelt selbst verfassungswidrig. Aber die Uni hat offenbar auch inhaltliche Bedenken – was das Ganze noch schlimmer macht.


In den Medien wird dieser Fall intensiv diskutiert. Ich habe hier einmal die erwähnenswerten Beiträge dieser Debatte zusammengestellt und dabei versucht, so fair wie irgend möglich die unterschiedlichsten Stimmen zu Wort kommen zu lassen.

Die Berliner "taz" merkt an:

Die Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit hört also dort auf, wo Proteste angekündigt werden? Können dann auch auch umgekehrt rechte Burschenschaften Vorträge über Transfeindlichkeit oder die rechtliche Bewertung von Abtreibungen mit Protestankündigungen verhindern? Werden Veranstaltungen abgesagt, weil die AfD vor und nach und währenddessen protestieren will? (…) Der Biologin aufgrund woker Bedenken einfach kurzfristig abzusagen, ist einer wissenschaftlichen Einrichtung unwürdig. (…) Die im Grundgesetz verankerten Rechte und Freiheiten können nämlich auch von noch so viel Protest nicht einfach weggecancelt werden.


Die Soziologin und Politologin Barbara Zehnpfennig vermutet bei den Studierenden, die im Vorfeld des Vortrags zu Protesten aufgerufen hatten, machtpolitische Interessen:

"Man will ja auch gar nicht argumentieren, denn dann müsste man sich ja auf eine sachliche Ebene einlassen, sondern man will die andere Position ausschalten." Vollbrecht, der die Aktivisten Transfeindlichkeit vorgeworfen hatten, würde als Person diffamiert, damit man sich nicht mit dem auseinandersetzen müsse, "was sie eigentlich meint". (…) Und: "Die Universität macht sich mit solchen Reaktionen wirklich erpressbar."

Die Politologin ist der Ansicht, ein solcher Rückzieher nach der Ankündigung von Protesten fördere das "Duckmäusertum". Wenn man damit rechnen könne, moralisch geächtet zu werden, wenn man eine bestimmte Position vertrete, "dann wird das bei vielen zu einer Vermeidung von Haltung führen". Man gehe dann von bestimmten Prämissen aus, die selbst nicht mehr hinterfragt würden: "und damit ist die Forschung nicht mehr ergebnisoffen. Das ist wirklich das Ende der Wissenschaft."


Der Historiker Jörg Baberowski legt nach:

Die Freiheit von Forschung und Lehre ist ein hohes Gut. In der Wissenschaft geht es um den Austausch und die Plausibilisierung von Argumenten. Erst an einer Gegenposition kann die eigene Sicht auf einen Gegenstand geschärft werden. Manche aber sind offenbar überzeugt, dass Wissenschaft Meinung und Glaube sei und sich deshalb außerwissenschaftlichen Erwägungen beugen müsse. Solche Überzeugungsgemeinschaften lassen nur gelten, was sich in ihr Weltbild einfügen lässt.

(…) Diese Erweckungsbewegungen bekommen zu viel Aufmerksamkeit. Es wäre klüger, wenn die Medien derartige Aktionen einfach ignorieren würden, denn es kommt diesen Aktivisten nicht darauf an, das Gespräch zu suchen, sondern im Gespräch zu sein. Stets bekommen sie die Aufmerksamkeit, die sie brauchen, um einen Macht- und Anerkennungsgewinn zu erzielen. Diesen Gefallen sollte man ihnen nicht erweisen. Es sind eigentlich immer die gleichen sechs, sieben Personen, die diese völlig sinnlosen Debatten inszenieren, weil die Suche nach Aufmerksamkeit ihr einziger Lebensinhalt ist, die in der Öffentlichkeit den Eindruck zu erwecken versuchen, Repräsentanten einer mächtigen Bewegung zu sein. In Wahrheit sind sie völlig unbedeutend.

(…) Wer nicht mehr korrigierbar ist, mag verblendet sein, gewinnt aber an Kraft gegenüber den vielen Menschen, die nicht organisiert sind. Und weil solche Aktionen, wenigstens in Berlin, auf geringen Widerstand stoßen, glauben die Eiferer, es sei nicht nur erlaubt, sondern auch geboten, was sie tun. In manchen Gremien der Humboldt-Universität haben diese Gruppen Sitz und Stimme, die sie nutzen, um sich überall Gehör zu verschaffen. Im vergangenen Jahr beteiligten sich 1,23 Prozent der Studenten an den Wahlen zum Akademischen Senat. Kaum mehr waren es, die sich für die Wahlen zum Studentenparlament interessierten. Wähler und Gewählte sind faktisch dieselben Personen.

(…) Ein Gespräch ist nur dann fruchtbar, wenn es sich von dem Gedanken leiten lässt, dass der andere auch recht haben könnte. Wenn sich dieser hermeneutische Grundsatz an den Universitäten wieder bemerkbar machen würde, wäre schon fast alles gewonnen.


Anders sieht Martin Steyn in einem Beitrag des Bayrischen Rundfunks die Dinge:

Von der üblen Geschichte ihres eigenen Fachbereichs, der Biologie, scheint Vollbrecht noch nie gehört zu haben – sie sieht offenbar keine Problematik, ihre Beobachtungen an Fischen auf Menschen zu übertragen. Solch Sozialdarwinismus war im Nationalsozialismus tödlich, indem er festlegte, was gesund, was abartig war. Auch scheint sie sich nur oberflächlich mit der Genderforschung befasst zu haben. Ihr genügen Hörensagen und üble Nachrede. Das macht auch sie zu einer engagierten Aktivistin, nur eben gegen das Gendermainstreaming. Auf Twitter mag das reichen; für Wissenschaft ist das nicht genug. Deswegen war die Einladung als Referentin ein Skandal. Nicht aber der Protest der Studierenden dagegen.


Die Ruhrbarone merken zu der Kontroverse folgendes an:

Die Kritiker verweisen entweder darauf, dass die queeren Aktivisten andere Ansichten mit Gewalt unterdrücken würden und dass eine Kultur herrsche, in der jemand, der ihrer Ideologie nicht folgt, um seine körperliche Unversehrtheit fürchten müsse. Oder aber sie verweisen darauf, dass diese Sicherheitsbedenken gar nicht näher ausgeführt wurden und dass doch gar nicht klar wäre, ob da wirklich Gefahren drohten. Die Universität solle das Rückgrat haben, die Veranstaltung durchzuziehen und notfalls müsse sie eben durch die Polizei geschützt werden. Dann liegt der Fokus nicht auf der Gewalt, sondern auf der Schwäche der Universität, die vor dem linken Mainstream einknickt.

Und das ist exakt das gleiche, naja, fast das gleiche Argument, dass auch die LGBTQ-Community vorbringt. Dort verneint man zwar, dass überhaupt eine Gefahr drohe, schließlich habe man nur friedliche Proteste angekündigt, aber auch dort wird das "Einknicken" als leichtfertig und unbegründet geframed. Man bezeichnet die Anderen ironisch als "Snowflakes" (ein eigentlich rechter Kampfbegriff für Übersensible), die gezielt so eine Veranstaltung absagen, um sich als Opfer zu inszenieren und die Gefahr durch Protestierende zu überhöhen. Die Sorge vor Übergriffen werde taktisch eingesetzt, obwohl sie unbegründet sei.

Das grenzt schon an Verschwörungstheorie, zumal der Vortrag ja gerade nicht von der Referentin abgesagt wurde, die dies bedauert, sondern von der Universität. Und dass jemand, der sich berufen fühlt, öffentlich über das biologische Geschlecht zu sprechen, sich heimlich darüber freut, nicht sprechen zu dürfen, nur um sich als Opfer gerieren zu können, klingt schon etwas unglaubwürdig.

Davon abgesehen ist diese Haltung der Transaktivisten unredlich, weil sie ja wirklich wollen, dass der Vortrag abgesagt wird. Sie organisieren Demonstrationen gegen den Vortrag, versuchen ihn zu verhindern, und wenn dies (vielleicht überraschend einfach) gelingt, werfen sie den auf diese Weise ruhig gestellten Gegnern vor, die würden das extra machen. Wenn die den Vortrag aber durchzögen, würden sie das selbstverständlich ebenfalls als skandalös brandmarken.

Das ist im Übrigen das Muster, das sich generell bei den Diskussionen über die sogenannte Cancel-Culture durchzieht. Konservative stellen es so dar, als würden sie sich eigentlich gar nicht mehr öffentlich äußern können, obwohl sie es offenkundig tun. Und als wären sie quasi dauernd Gewalt ausgesetzt, obwohl dies offenkundig der Ausnahmefall ist. Linke hingegen behaupten, es gäbe keine Cancel-Culture, weil ja niemand, der was "Falsches" sagt, im Gefängnis landen müsse und überhaupt, man könne ja immer noch bei der "Achse des Guten" veröffentlichen. Damit wenden sie aber eine radikale Definition dieses Begriffes an, bei der eine Cancel-Culture erst bei staatlich organisierter Zensur überhaupt existiert. Dabei geht es ja nicht um die Frage, ob diese Zensur vollständig etabliert ist, sondern darum, ob bei den sogenannten "Woken" das Ziel besteht, abweichende Meinungen zu beseitigen – mal mehr, mal weniger erfolgreich. Ob bestimmte Kritik nur noch in rechten Nischenblogs überhaupt vorkommen kann. Und dass sie dieses Ziel haben, sagen sie eigentlich recht offen. Die Tatsache, dass sie es noch nicht erreicht haben, benutzen sie dann als Gegenargument gegen die Existenz einer Cancel-Culture.


Bildungsstaatssekretär Jens Brandenburg, der ehemalige queerpolitische Sprecher der FDP-Fraktion, befindet zu der Kontroverse auf Twitter:

Zur Meinungsfreiheit gehört, auch schwer erträglichen Unsinn äußern zu dürfen. Zur Wissenschaftsfreiheit gehört, dass auch längst widerlegte Thesen ihren Raum bekommen. Denn das stärkste Argument siegt in der offenen Debatte. Abgesagte Vorträge füttern nur bequeme Vorurteile.


Einer meiner Leser schreibt mir hierzu:

Dass selbst die Kommentatoren, welche die Absage bedenklich finden, dies damit begründen, dass die Biologin eine Meinung vertreten würde, die es auszuhalten gelte, ist der Horror. Die biologische Zweigeschlechtlichkeit ist doch keine Meinung, sondern ein zu 100% bewissenes Faktum! So klar, wie dass der Mensch atmen und essen muss, die Erde keine Scheibe ist, Gott die Welt nicht vor 6000 Jahren innerhalb einer Woche erschaffen hat.


Genau anders herum sieht es der Autor dieses Beitrags:

Was die schnell empörten Streiter*innen wider den "woken Gesinnungsterror" aber gerne verschweigen, ist, dass der Vortrag an sich völlig ungeeignet war: Weder war er dazu angetan, im Rahmen einer „Langen Nacht der Wissenschaft“ wissenschaftliche Inhalte auch für die interessierte, breite Masse aufzubereiten, noch war er wissenschaftlich von irgendeinem Wert. Der Glaubenssatz "Es gibt nur zwei Geschlechter" mag zwar schmissig daherkommen und geht auch konservativen Kolumnist*innen leicht von den Lippen, ist aber so nicht haltbar und wissenschaftlich völlig überholt. So zu tun, als würde man mit dieser These eine wissenschaftliche Debatte sinnvoll befeuern, ist in etwa so, als würde man gerne noch mal darüber diskutieren wollen, ob nun die Erde um die Sonne kreist oder ob Viren existieren. Das sind Debatten vergangener Jahrhunderte, deren Wiederholung die Wissenschaft um keinen Millimeter weiterbringt – im Gegenteil. Was dann noch übrig bleibt, ist der Versuch einer Aktivistin, ihre Ansichten mehr oder weniger subversiv im Schafspelz eines wissenschaftlichen Vortrags unters Volk zu bringen. (…) Wer sich unterdessen über die komplexe und wunderschöne Welt der Biologie informieren will, ist gut beraten, sich in Artikeln und Büchern zu informieren, die den Stand der Wissenschaft und deren aktuelle Debatten widerspiegeln. Randständige Ansichten von vorgestern gehören nicht dazu und das ist auch gut so.


Der Sexualwissenschaftler Hans-Jürgen Voß befindet:

Vortragen sollen erst einmal alle, gleichzeitig ist es legitim, wenn eine Gruppe davor demonstriert. (…) Wenn wir nur auf Individualität gucken, müsste man sagen, dass es so viele Geschlechter gibt, wie es Menschen gibt. Lange Zeit – seit der Gründung der modernen Biologie um 1800 – wurden die gesellschaftlichen Geschlechterstereotype einfach auf die biologische Wissenschaft übertragen. Man ging gesellschaftlich von einer klaren Ordnung der Geschlechter und der Zurücksetzung der Frauen aus – und versuchte das als biologisch nachzuweisen. Erst seit etwa 30 bis 40 Jahren sind wir in der Biologie dabei, diese stereotype Zuschreibung zurückzunehmen. Es wird zunehmend kritisiert, wenn bereits im Forschungsdesign – also noch bevor die Studie beginnt – in Frauen und Männer unterteilt wird. Unterteilt man so zu Beginn der Forschung, gibt es gar keine andere Möglichkeit, als entweder Gleichheit oder Differenz zwischen diesen zwei festgelegten Gruppen festzustellen. Man kommt aus einem zweigeschlechtlichen Raster gar nicht raus. Diese Herangehensweise wird innerhalb der biologischen Forschung aber zunehmend infrage gestellt. Jetzt beginnt man, unvoreingenommener auf die Geschlechtsentwicklung zu gucken.

In der deutschen Debatte ist in den vergangenen Jahren aber einiges passiert. Olaf Hiort ist da ein prominentes Beispiel. Bis vor zehn Jahren hat er immer wieder gesagt, dass Zweigeschlechtlichkeit biologisch die Norm sei, und intergeschlechtliche Varianten als Abweichungen betrachtet. Mittlerweile schließt auch er an den internationalen Sachstand an: Im vergangenen Jahr hat er etwa auch populär – in der Zeitschrift Spektrum – einen Beitrag veröffentlicht über die vielen Geschlechter, die es nach Sicht der Biologie gibt. Diese Entwicklung zeigt sich insgesamt in der Biologie. (…) Ja, die Mehrheitsmeinung in der Biologie geht in diese Richtung.


Die Neurowissenschaftlerin Franca Parianen argumentiert ähnlich:

Vor etwas mehr als hundert Jahren hätte es zu jedem Vortrag über Geschlechterunterschiede gehört, dass Frauengehirne weniger leistungsfähig sind. Auch damals gab es Leute, die diese Vorstellung gegen jeden Beweis des Gegenteils mit aller Macht verteidigten. Auch damals war es wichtig, dass sich andere Forschende dem entschlossen entgegenstellten. Das war dmals und ist heute keine Cancel Culture, das ist wissenschaftlicher Fortschritt.


"Die Zeit" erklärt in einem langen Artikel, dass es doch bis auf wenige Einzelfälle ohnehin keine Cancel Culture gäbe, und fordert von den Institutionen einen "souveräneren" Umgang ein:

Im aktuellen Fall der Humboldt-Universität hätte das geheißen: Vollbrecht erst gar nicht zur Langen Nacht der Wissenschaften einzuladen oder sie, wenn schon, aus begründeten fachlichen Bedenken wieder auszuladen und nicht mit dem Hinweis auf die allgemeine Sicherheitslage. Eventuell auch: sie nicht auf den öffentlichen Druck hin wieder (wenn auch in einen anderen Kontext) einzuladen, das wirkt doch alles arg unsouverän und vor allem nicht von wissenschaftlichen Qualitätskriterien geleitet.


Wie verwickelt die Debatte ist, zeigt sich auch daran: Während Alice Schwarzers "Emma" Vollbrecht als Feministin feiert, werfen ihr die Belltower News der Amedeu-Antonio-Stiftung "Antifeminismus" und "Schulterschluss mit Rechtsaußen" vor: "Wissenschaft darf vieles. Menschenfeindliche und hasserfüllte Verschwörungserzählungen zu verbreiten, sollte nicht dazu gehören."

Die gecancelte Biologin Vollbrecht bezeichnet sich selbst übrigens als "sehr links", was bei einer Studentin an der Humboldt-Uni ohnehin naheliegt. Genauer erklärt sie ihre Position in einem Interview mit dem Autonomie-Magazin:

Unsere Kritik wird leider hauptsächlich von konservativen und rechten Medien aufgegriffen. Das führt zu einem heftigen Abwehrreflex aufseiten der Linken. Mit den Inhalten wird sich dadurch aus Prinzip nicht auseinandergesetzt, stattdessen Kontaktschuld zu Rechten konstruiert. Ich sehe ehrlich gesagt nicht, wie wir diesen Graben überwinden können.


Damit befindet sich Vollbrecht in demselben Dilemma wie ich: Veröffentlicht sie in rechten Medien wird sie einem Lager zugeordnet, dem sie nicht angehört. Versucht sie aber in linken Medien zu veröffentlichen, trifft sie schnell auf die bekannten Schranken.

Auf die Frage, warum Zweigeschlechtlichkeit nicht egal ist, antwortet Vollbrecht:

Warum ist es nicht egal, dass sich die Erde um die Sonne dreht und nicht umgekehrt? Warum ist es nicht egal, dass die Erde keine Scheibe ist? Weil Ideologie nichts in der Wissenschaft zu suchen hat. Weil es entscheidend für die medizinische Forschung ist. Weil es nötig ist, das politische Subjekt der Frau sichtbar zu machen, welches juristisch nicht mal 100 Jahre als gleicher Mensch gilt und in vielen Teilen der Welt immer noch nicht. (…) Was ist die Wurzel der Unterdrückung der Frau, wenn wir diese nicht an biologischen Unterschieden festmachen? Auch ohne Chromosomentest wird eine Klasse der Menschheit abgetrieben, nach der Geburt getötet, verkauft, versklavt, verstümmelt, unterdrückt, erhält weniger Bildung und ist vor dem Gesetz nicht frei und gleichgestellt alleine aufgrund einer geschlechtlichen Klassenzugehörigkeit.


Nach dem Begriff der "toxischen Männlichkeit" gefragt, führt Vollbrecht folgendes aus:

Die Annahme der "toxischen" Männlichkeit folgt im liberalen Feminismus einer etablierten Hierarchisierung, nachdem das "Weibliche" per Geburt in eine unausweichliche Opferrolle gelangt, während das "Männliche" zwingend den unterdrückenden Part darstellt. Dieser simple Ansatz bedient aber nur eine einfache Schablone der Geschlechteranalyse. Der ursprüngliche intersektionale Ansatz versuchte, diese einfache Täter-Opfer-Dynamik durch eine multiperspektivische Betrachtung von Klasse und Geschlecht und "Race" im Verhältnis und in Wechselwirkung zueinander zu untersuchen. Intersektionaler liberaler Feminismus heute kreiert lediglich eine noch kompliziertere Opferpyramide, an deren Fuß der weiße Mann als Verursacher und Täter an allen weiteren Identitäten, Geschlechtern, Nationalitäten und Ethnien steht. Die Frage nach der Stellung eines Individuums in dieser Pyramide tritt an die Stelle der Systemfrage nach Patriarchat und/oder Kapitalismus. Der Begriff der "toxischen Männlichkeit" reduziert so die eigentlich notwendige Kritik an der Ellenbogen-Gesellschaft immer wieder auf ein individualpsychologisches Problem.

Der Begriff der "toxischen Maskulinität" erzeugt auch eine grundsätzliche Verunsicherung unter linken Männern. In einem System, wo mir durch die Wahl einer Identität freigestellt wird, entweder Unterdrücker oder Unterdrückte zu sein, erscheint vielen Männern die Identifikation mit der sympathisch erscheinenden Opferrolle statt dem verhassten Täter als die bessere Wahl. Zur vollständigen Identifikation und Solidarität mit dem weiblichen Opfer wird die eigene Männlichkeit abgelehnt, negiert oder ständig "kritisch reflektiert". Im Gegenzug steht hier das alte patriarchale Gewaltverhältnis in Form derjenigen Männer, welche sich in der Konkurrenz um Ressourcen von Frauen überholt und übergangen fühlen. Durch ein einfaches sprachliches Bekenntnis, nämlich "ich bin eine Frau" oder auch "ich bin kein Mann, ich fühle mich nicht wie ein Mann", können solche Männer an die Spitze der Opferpyramide springen. Die augenscheinlich weniger privilegierte Position wird dann vom unmittelbaren Umfeld in Form von Ressourcen, Aufmerksamkeit, Redezeit und Gütern vergolten.




3. Wehrpflichtige Ukrainer dürfen ab sofort ihren Wohnort nicht mehr verlassen. Das hat das ukrainische Verteidigungsministerium am Dienstag angekündigt.



4. Ein neuer MANNdat-Beitrag widmet sich dem Fernfahrerberuf als Männerausbeutung.



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