Samstag, August 29, 2020

Von Günter Wallraff bis Necla Kelek: Europas Intellektuelle veröffentlichen Appell gegen Cancel Culture

Der Publizist Dr. Milosz Matuschek (Neue Zürcher Zeitung, Schweizer Monat) und der Schriftsteller Gunnar Kaiser haben gestern Abend auf der Website des neu gegründeten "Intellectual Deep Web Europe" einen Appell gegen die derzeit grassierende "Cancel Culture" veröffentlicht, zu dessen Erstunterzeichnern zahlreiche hochkarätige Intellektuelle und Meinungsführer des öffentlichen Lebens gehören.

In diesem Appell heißt es:

Befreien wir das freie Denken aus dem Würgegriff

Absagen, löschen, zensieren: Seit einigen Jahren macht sich ein Ungeist breit, der das freie Denken und Sprechen in den Würgegriff nimmt und die Grundlage des freien Austauschs von Ideen und Argumenten untergräbt. Der Meinungskorridor wird verengt, Informationsinseln versinken, Personen des öffentlichen und kulturellen Lebens werden stummgeschaltet und stigmatisiert. Es ist keine zulässige gesellschaftliche "Kritik" mehr, wenn zur Durchsetzung der eigenen Weltsicht Mittel angewendet werden, die das Fundament der offenen liberalen Gesellschaft zerstören.

Wir erleben gerade einen Sieg der Gesinnung über rationale Urteilsfähigkeit. Nicht die besseren Argumente zählen, sondern zunehmend zur Schau gestellte Haltung und richtige Moral. Stammes- und Herdendenken machen sich breit. Das Denken in Identitäten und Gruppenzugehörigkeiten bestimmt die Debatten – und verhindert dadurch nicht selten eine echte Diskussion, Austausch und Erkenntnisgewinn. Lautstarke Minderheiten von Aktivisten legen immer häufiger fest, was wie gesagt oder überhaupt zum Thema werden darf. Was an Universitäten und Bildungsanstalten begann, ist inzwischen in Kunst und Kultur, bei Kabarettisten und Leitartiklern angekommen.

Die Grenze des Erträglichen ist längst überschritten.

Inzwischen sind die demokratischen Prozesse selbst bedroht. Der freie Zugang zum öffentlichen Debattenraum ist die Wesensgrundlage eines jeden künstlerischen, wissenschaftlichen oder journalistischen Schaffens sowie die Basis für die Urteilskraft eines jeden Bürgers. Ohne unverstellten Zugang zu Informationen keine unverzerrte Urteilsfindung, keine wohlbegründete Entscheidung und keine funktionierende Demokratie. Wie wollen wir in Zukunft Sachfragen von öffentlichem Interesse behandeln? Kuratiert und eingehegt – oder frei?

In einer freien Gesellschaft ist das gezielte Ausüben von Druck auf Intellektuelle, Künstler und Autoren und auf jeden, der eine Meinung äußert, die dem aktuell Akzeptierten widerspricht, sowie auf Veranstalter, Verleger oder Arbeitgeber eine inakzeptable Anmaßung. Weder der Staat noch andere, seien es Einzelne oder eine Gruppe "Betroffener", dürfen den Zugang zum Debattenraum reglementieren. In der Demokratie gehört die Macht entweder dem Einzelnen, oder der Einzelne gehört der Macht.

Das Recht auf freie Rede und Informationsgewinnung sowie auf freie wissenschaftliche oder künstlerische Betätigung ist ein Recht und kein Privileg, das von dominierenden Gesinnungsgemeinschaften an Gesinnungsgleiche verliehen und missliebigen Personen entzogen werden kann. Es ist dabei unerheblich, auf welcher politischen Seite die Gruppierung steht, ob sie religiös, weltanschaulich oder moralisch motiviert ist – ein Angriff auf die Demokratie bleibt ein Angriff auf die Demokratie. Zuerst verarmt die öffentliche Debatte, dann kollabiert die vernunftgeleitete öffentliche Entscheidungsfindung.

Die erste "Spielregel" für einen offenen Diskurs muss deshalb lauten: Das Spiel findet statt!

Doch das Problem ist grösser.

Wir brauchen eine generelle Ent-Politisierung und Ent-Ideologisierung der öffentlichen Debatte. Sonst öffnen wir der Willkür des Zeitgeistes Tür und Tor. Politische Sprache ist ein Machtinstrument. Sie ist, wie schon George Orwell wusste, dazu geschaffen, "Lügen wahrhaftig und Mord respektabel klingen zu lassen und dem blossen Wind einen Anschein von Festigkeit zu verleihen." Besinnen wir uns stattdessen auf die Standards und die bewährten methodischen Werkzeuge des demokratischen Prozesses. Fördern wir, was der Wahrheitssuche und dem Erkenntnisinteresse dient und das Wissen aller vermehrt.

Gerade in unübersichtlichen Zeiten braucht es nicht weniger, sondern mehr unkonventionelles Denken. Noch nie in der Geschichte der Menschheit haben Zensur und Zurückhaltung von Informationen den Fortschritt befördert. Meinungsfreiheit gilt im Rahmen der grundgesetzlichen Ordnungen prinzipiell für alle Meinungen, und besonders für solche, die als anstößig, provokant oder verstörend eingestuft werden. Sonst bräuchte es die Meinungsfreiheit nicht.

Kein Thema von öffentlichem Interesse darf prinzipiell aus dem Debattenraum ausgeschlossen sein. Demokratie wird unter Schmerzen der Beteiligten geboren. Sie stirbt durch Monotonie und Konformismus oder wenn der Mut, eine unkonventionelle Ansicht zu vertreten, eine Art Berufsverbot zur Folge haben kann – und die Öffentlichkeit dazu schweigt.

"Freiheit ist ein Gut, dessen Dasein weniger Vergnügen bringt als seine Abwesenheit Schmerzen." (Jean Paul)

Seien wir generell skeptisch gegenüber Reinheitsfanatikern, die uns vor gefährlichen Ideen und Meinungen bewahren wollen. Stärken wir das Vertrauen in das intellektuelle Immunsystem unserer Gesellschaft – wir schwächen es, wenn wir es abschotten und quasi vor "Erregern" unkonventioneller Ideen bewahren wollen. Werden wir immun gegenüber Herdenmentalität und Konformismus: Beide führen letztlich in die Unfreiheit, gleich unter welchem Etikett.

Entziehen wir dem öffentlichen Debattenraum die Angst und bringen wir den Mut zurück! Entgiften wir das Meinungsklima und schaffen wir ein Klima der anregenden, redlich geführten Auseinandersetzung, sowie von kultureller Vielfalt, intellektueller Neugier, Gedankenfrische und Spass am geistigen Schaffen.



Wir fordern sämtliche Veranstalter, Multiplikatoren oder Plattformbetreiber auf, dem Druck auf sie standzuhalten und nicht die Lautstarken darüber entscheiden zu lassen, ob eine Veranstaltung stattfindet oder nicht.

Wir solidarisieren uns mit den Ausgeladenen, Zensierten, Stummgeschalteten oder unsichtbar gewordenen. Nicht, weil wir ihre Meinung teilen. Vielleicht lehnen wir diese sogar strikt ab. Sondern weil wir sie hören wollen, um uns selbst eine Meinung bilden zu können. Wir senden ein Signal des Mutes an alle Personen des öffentlichen Lebens, sich mit betroffenen Kolleginnen und Kollegen zu solidarisieren. Erhöhen wir gemeinsam den Preis für Feigheit und senken wir den Preis für Mut.

Wir beenden hiermit das unselige Phänomen der Kontaktschuld. Ohne sie wäre die Absageunkultur nicht möglich. Kontakt ist nicht geistige Komplizenschaft. Die Nutzung einer gemeinsamen Plattform oder Bühne ändert nichts daran, dass jeder für sich spricht und auch nur dafür verantwortlich ist, was er oder sie sagt.

Auch die Unterzeichner dieses Appells sprechen jeweils nur für sich selbst. Uns eint vielleicht nichts, außer die Sehnsucht nach einer aufregenden, für beide Seiten erhellenden Konversation und nach einem vielfältigen Kulturangebot, was auch immer jede und jeder darunter verstehen mag.


Zu der Liste der Erstunterzeichner gehören:

Hamed Abdel-Samad, Politikwissenschaftler und Publizist

Götz Aly, Historiker und Publizist

Jörg Baberowski, Historiker und Gewaltforscher

Michèle Binswanger, Journalistin ("Tagesanzeiger")

Norbert Bolz, emeritierter Professor für Medienwissenschaft, TU Berlin

Raphael Bonelli, Psychiater und Autor

Vince Ebert, Wissenschaftskabarettist

Giuseppe Gracia, Autor und Kolumnist ("Blick")

Alexander Grau, Philosoph und Kolumnist ("Cicero")

Bettina Hagen, Malerin

Green Rabbit, Youtuber

Lars Hartmann, Kulturjournalist und Blogger

Michael Hofreiter, Professor für Zoologie/Universität Potsdam

Arne Hoffmann, Wissenschaftsjournalist und Männerrechtler

Helmut Holzhey, emeritierter Professor für Philosophie, Universität Zürich

Alexander Horn, Publizist und Geschäftsführer des Politikmagazins "Novo"

Erwin Jurtschitsch, Journalist, Unternehmer, Mitgründer der "tageszeitung" ("taz")

Markus J. Karsten, Verleger (Westend-Verlag)

Necla Kelek, Soziologin und Publizistin

Sandra Kostner, Forscherin, PH Schwäbisch Gmünd

Markus Krall, Wirtschaftspublizist

Walter Krämer, Ökonom, Professor, Autor

Monika Maron, Schriftstellerin

Reinhard Merkel, Strafrechtsprofessor, langjähriges Mitglied im Ethikrat

Axel Meyer, Professor für Zoologie/Evolutionsbiologie, Universität Konstanz

Rebecca Niazi-Shahabi, Sachbuchautorin

Gunther Nickel, Professor für Literatur, Universität Mainz

Haralampi G. Oroschakoff, Künstler

Robert Pfaller, Philosoph und Kulturtheoretiker, Universität Linz

Sascha Reh, Schriftsteller

Michael Schmidt-Salomon, Philosoph, Publizist/Giordano Bruno Stiftung

Susanne Schröter, Professorin für Ethnologie, Universität Frankfurt

Gerhard Schwarz, Publizist, Progress Foundation

Wolfgang Sofsky, Soziologe und Essayist

Thomas Sevcik, Architekt

Cora Stephan, Schriftstellerin

Ulrike Stockmann, Journalistin ("Jüdische Rundschau")

Andreas Thiel, Kabarettist

Maritta Tkalec, Journalistin ("Berliner Zeitung")

Raymond Unger, Künstler und Blogger

Daniel von Wachter, Professor für Philosophie, Liechtenstein

Günter Wallraff, Journalist und Schriftsteller

Alexander Wendt, Autor, Journalist ("Tichys Einblick")

Tamara Wernli, Youtuberin, Kolumnistin ("Weltwoche")

Stephan Wirz, Titularprofessor für Ethik und Publizist

Michael Zöller, emeritierter Professor für Soziologie, Universität Bayreuth

Christian Zulliger, Hayek Club Zürich

Die vollständige Liste der Unterzeichner wird am 25. September 2020 veröffentlicht.

Bis dahin kann jeder diesen Appell mit seiner Unterschrift unterstützen, kommentieren, bewerben und weiterverbreiten.

In einem knapp einstündigen Gespräch auf Youtube beschäftigen sich Tamara Wernli und Gunnar Kaiser ausführlicher mit der Notwendigkeit zu diesem Aufruf.

Für die nächsten Wochen stehen weitere Videos an, außerdem Kolumnen, Schwerpunkte in Zeitschriften, Interviews und Radiobeiträge, die sich um diesen Appell drehen.

Auf politischer Ebene freue ich mich, dass über meine Mitwirkung auch die Männerrechtsbewegung einen Platz in diesem neuen liberalen Aufbruch gefunden hat. Sie ist eine der am stärksten wachsenden politischen Bewegungen unserer Zeit, obwohl sie von Journalisten der Leitmedien verfemt oder totgeschwiegen wird. Gerade die letzten Wochen haben uns allen noch einmal vor Augen geführt, wie sehr mit Kontaktschuld und persönlichen Diffamierungen gearbeitet wird, um eine freie, offene und an Sachargumenten orientierte Debatte zu unterbinden. Die entsprechenden Beiträge hätten die Notwendigkeit für unseren Appell nicht besser unterstreichen können, wenn sie eigens dafür bestellt worden wären. Würde man einigen Linken auch nur die Kontaktschuld als Argument-Ersatz wegnehmen, würden sie komplett hilflos durch die politische Landschaft irren und könnten ausschließlich auf Gewalt zurückgreifen, um ihre Meinung durchzusetzen.

Ganz persönlich freue ich mich darüber, an dieser Initiative mit vielen Menschen zusammenzuwirken, die für die intellektuelle Debatte dieses Landes prägend sind. Wer zum Beispiel meinen Lebenslauf kennt, weiß, dass meine Medienkritik ganz ursprünglich, also noch im Teenageralter, von Günter Wallraff angestoßen wurde. Ich finde es großartig, mich heute mit ihm und anderen bedeutenden Publizisten für eines der wichtigsten politischen Anliegen unserer Zeit einsetzen zu können.

Europas Intellektuelle haben im Engagement gegen die Cancel Culture nun eine klare Vorlage geliefert. Allmählich könnten jetzt auch die Politiker liberaler Parteien wie der FDP all ihren Mut zusammennehmen und daran anknüpfen. (Und nicht immer nur Herr Kubicki, bitte!)

Da die Männerrechtsbewegung ganz essenziell von der Cancel Culture betroffen ist, wird Genderama auch weiter über diesen Kampf für Demokratie und Meinungsfreiheit berichten.



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