Feministisches Wahlrecht immer noch verfassungswidrig: Wie geht es jetzt weiter?
"Ein zentrales Projekt der deutschen Politik (von Linke bis wachsende Teile der CDU) ist verfassungswidrig", stellt der bekannte Journalist Robin Alexander lapidar fest. Viele Medien berichten über das Gerichtsurteil, das gestern die Brandenburger Verfassungsrichter fällten – darunter die Neue Zürcher Zeitung:
Am Freitag kassierte das Verfassungsgericht des Bundeslandes das Gesetz, das Anfang 2019 vom Landtag verabschiedet worden war, wieder ein. Der Entscheid des Gerichts, dem vier Frauen und fünf Männer angehören, fiel einstimmig. Überzeugte Befürworter von Quotenregelungen dürften sich davon kaum beirren lassen, doch reiten sie vermutlich ein totes Pferd: Bereits im Juli hatte das thüringische Verfassungsgericht das dortige Paritätsgesetz für rechtswidrig erklärt. Die Rechtsauffassung zahlreicher Juristen, wonach derartige Regelungen nicht verfassungskonform sind, scheint sich durchzusetzen.
(…) Die brandenburgischen Christlichdemokraten, die seit der letzten Landtagswahl zusammen mit der SPD und den Grünen regieren, vermieden es (…), sich in der Frage gegen ihre Koalitionspartner zu stellen. In den Augen vieler Bürger dürften sie sich durch ihre Zurückhaltung allerdings keinen Gefallen getan haben: Wie schon in Thüringen bleibt nun auch in Brandenburg der Eindruck zurück, die bürgerlichen Parteien überliessen es aus Konfliktscheu mehr oder weniger unappetitlichen Kräften vom rechten Rand, ein verfassungswidriges Gesetz zu kippen.
Aus Sicht der "Frankfurter Allgemeinen" hatte es sich um eine Niederlage mit Ansage gehandelt:
Die Potsdamer Richter stellten klar, dass die Freiheit der Wahl schon im Vorfeld gewährleistet sein muss; Erfolgsaussichten spielen keine Rolle. Insbesondere für die NPD war diese Feststellung bedeutsam; bei den Landtagswahlen im vergangenen Jahr hatte sie 0,6 Prozent der Stimmen erreicht. Das Gericht hob zudem hervor, dass die Aufstellung von Kandidaten im Sinne des Demokratieprinzips zur grundlegenden Aufgabe von Parteien gehört. Dessen grundlegendes Element sei schließlich die Willensbildung "von unten nach oben", also vom Volk zu den Staatsorganen und nicht umgekehrt. Dieser Prozess müsse frei von inhaltlicher staatlicher Einflussnahme bleiben. Im Urteil heißt es: "Den Staatsorganen ist es grundsätzlich verwehrt, sich in Bezug auf den Prozess der Meinungs- und Willensbildung des Volkes zu betätigen – er hat 'staatsfrei' zu bleiben." Das Paritätsgesetz entziehe dem demokratischen Willensbildungsprozess insofern einen wesentlichen Teil.
(…) Die Brandenburger Richter hoben in ihrer Entscheidung zudem hervor, was Kritiker gesetzlich vorgeschriebener Paritäten immer wieder artikulieren: Eine derartige Pflicht verwische die programmatischen Unterschiede von Parteien, denen es freistehe, sich dem Ziel der Förderung der Gleichberechtigung mehr oder weniger zu verschreiben. Ebenso wie es dem Wähler freistehe, sich hierzu zu verhalten.
(…) Schließlich hob das Verfassungsgericht hervor, was schon in der politischen Debatte um Paritätsgesetze Gewicht gehabt hatte: Das Demokratieprinzip beruht auf dem Grundsatz der Gesamtrepräsentation. Abgeordnete sind weder einer Partei noch einer bestimmten Gruppe verpflichtet, sondern dem ganzen Volk. So steht es im Grundgesetz. In der Entscheidung heißt es: "Dem Prinzip der Gesamtrepräsentation widerspricht damit die Idee, dass sich in der Zusammensetzung des Parlaments auch diejenige der (wahlberechtigten) Bevölkerung in ihren vielfältig einzuteilenden Gruppen, Schichten oder Klassen widerspiegeln soll." Keine – wie auch immer bestimmte – Bevölkerungsgruppe könne aus dem Demokratieprinzip den Anspruch ableiten, entsprechend ihrem Bevölkerungsanteil proportional im Parlament repräsentiert zu werden.
Viele äußerten sich erfreut über die Klarstellung, die die Hüter des Grundgesetzes gestern geleistet hatten:
"Gut, dass nach Thüringen auch Brandenburg das Paritätsgesetz kippt", schrieb auf Twitter die ehemalige Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU). "Unser Grundgesetz ist so weise, Fragen, welche sozialen Gruppen in Parlament wie vertreten sind, mündigem Bürger zu überlassen. Er kann wählen und sich wählen lassen. Es gibt keine höhere Form demokratischer Legitimität."
"Parität bedeutet Geschlechterapartheid", sagte die stellvertretende AfD-Vorsitzende Beatrix von Storch. "Die Trennung im Wahlrecht zwischen Männern, Frauen und noch dazu 'Diversen' ist jetzt tot, und das ist auch gut so."
Matti Karstedt, Vorsitzender der Jungen Liberalen Brandenburg, twitterte: "Der Staat darf die Wählbarkeit eines Menschen nicht einfach an seine äußeren Eigenschaften knüpfen. Was selbstverständlich klingt, musste der Politik heute (mal wieder) von einem Verfassungsgericht erklärt werden."
Der CSU-Sozialpolitiker Max Straubinger erklärte, die Parteien müssten ihre Wahllisten "mit den fähigsten Kandidatinnen und Kandidaten besetzen, natürlich unabhängig vom Geschlecht".
Der justizpolitische Sprecher der CDU-Fraktion im Thüringer Landtag, Stefan Schard sieht sich durch das Urteil bestätigt:
"Das Brandenburger Urteil zeigt erneut, dass solche quotierende Wahlrechtseingriffe einen verfassungsjuristischen Irrweg darstellen und keinen gerichtlichen Bestand haben. Hier wird das richtige Ziel der Gleichberechtigung mit falschen Mitteln verfolgt. Diese Verletzung elementarer Verfassungsgrundsätze wird nun ein weiteres Mal höchstrichterlich korrigiert. Die CDU-Landtagsfraktion wird sich auch weiterhin entschieden gegen solche tiefgreifende Eingriffe in die Wahlrechtsgrundsätze und die Rechte von Parteien stellen. Der Grundsatz von freien und gleichen Wahlen bezieht sich auch auf die Zeit vor dem eigentlichen Wahltag und dessen Vorbereitung.
Nicht umsonst war auch die rot-rot-grüne Landesregierung in Thüringen bereits im Juli mit ihrem Vorhaben auf Grund gelaufen. Jeder Bürger muss unabhängig vom Geschlecht oder sonstigen Eigenschaften die Möglichkeit haben, sich auf ein Mandat zu bewerben. Die mit solchen Gesetzen einhergehende Einmischung in parteiliche Belange und die damit verbundene Aushöhlung parlamentarischer Strukturen war von Anfang an zum Scheitern verurteilt."
Auch der Professor für Strafrecht Holm Putzke (CSU) äußerte sich zufrieden über die Entscheidung der Verfassungsrichter:
Ein guter Tag für die Demokratie und gleichberechtigte Teilhabe. Bedauerlich ist, dass zur Durchsetzung von Verfassungsrechten AfD und NPD nun als Protagonisten dastehen. Richtig wäre gewesen, dass CDU oder FDP den Rechtsweg beschritten hätten. Aber das kommt davon, wenn man - um es jedem Recht zu machen - sich nicht mehr traut, (streitbare) Positionen zu beziehen. Damit überlässt man, ohne Not, dann leider zunehmend den Verfassungsfeinden das Feld. Das sollte für die Zukunft eine Lehre sein. Wir brauchen mehr konstruktiven Streit, mehr klare Positionen und auch wieder mehr Unterscheidbarkeit bei den großen Volksparteien. Welche Politik man gerade macht, darf nicht davon abhängen, welche Koalition man anstrebt, um mitregieren zu können.
Völlig einverstanden zeigte sich auch der Vorsitzende der Jungen Union, Tilman Kuban, mit dem Gerichtsurteil. "Echte Gleichberechtigung erreicht man nicht, indem man die Demokratie aushebelt", erklärte er auf Twitter.
Die Vorsitzende der Frauen-Union, Annette Widmann-Mauz, nutzte das Urteil indes, um die CDU noch einmal zu drängen, endlich die geplante Festschreibung von Frauenquoten für Führungsgremien der Partei zu beschließen.
Wie die Grünen drängte sie die Bundesregierung, eine eigene gesetzliche Regelung zu erarbeiten. "Keine Option ist für mich der Status quo in Bezug auf den Anteil von Frauen in den Parlamenten. Wir brauchen die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an politischen Entscheidungen auf allen Ebenen", sagte Widmann-Mauz.
Die frauenpolitische Sprecherin der FDP-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, Maren Jasper-Winter, sieht sich in ihrer Position bestätigt: "Das Urteil zeigt wieder einmal, dass Gleichstellung mit der Brechstange nicht funktionieren kann."
Für den FDP-Politiker Marco Buschmann schafft das Urteil Klarheit zum Instrument des Paritätsgesetzes. "Es ist richtig, nach Wegen zu suchen, mehr Frauen für die parlamentarische Arbeit zu gewinnen. Gesetzlich verordnen lässt sich das nicht", so Buschmann. Der Auftrag der Großen Koalition an die Reformkommission zum Wahlrecht, über ein Paritätsgesetz nachzudenken, habe sich laut Buschmann mit dem Urteil erledigt.
Die Befürworter des feministischen Wahlrechts hingegen verbergen ihren Unmut über das Gerichtsurteil nicht:
Maria Wersig, Präsidentin des Deutschen Juristinnenbundes, zeigte sich enttäuscht. "Das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg hat heute die Chance verpasst, dem vom Parlament gelegten Meilenstein für Demokratie und Gleichberechtigung zu zementieren", so Wersig. Die verfassungsrechtliche Debatte über die Anforderungen von Art. 3 Abs. 2 GG auch an das Wahlrecht werde trotzdem weitergehen. Wersig sagte: "Der Deutsche Juristinnenbund wird sich weiterhin für ein Demokratieverständnis einsetzen, das die jahrhundertelange Ausgrenzung von Frauen aus der politischen Sphäre nicht ausblendet und dem Gleichberechtigungsgebot des Grundgesetzes zur Entfaltung verhilft."
(…) Die Berliner Landes-SPD wertet das Urteil als herben juristischen Rückschlag für eine wirkliche Gleichstellung der Geschlechter. Die stellvertretende SPD-Landesvorsitzende Iris Spranger sagte am Freitag, selbst Parlamente seien noch weit von der gleichberechtigten Teilhabe von Frauen und Männern entfernt. "Deshalb werden wir nach den herben juristischen Rückschlägen durch die Urteile von Thüringen und Brandenburg in Berlin mit einem rechtssicheren Paritätsgesetz Vorreiter auf dem Weg zur gleichberechtigten Teilhabe von Männern und Frauen im Parlament werden."
(…) Unterdessen interpretierte Brandenburgs Landtagspräsidentin Liedtke das Urteil als "Chance", um über das Thema neu nachzudenken. "Auf ein Neues", sagte Liedtke am Freitag in Potsdam nach der Entscheidung. Es müsse nun überlegt werden, welche Maßnahme richtig sei, um die in der Landesverfassung vorgesehene Gleichstellung durchzusetzen. Mit der Entscheidung sei aber auch etwas gewonnen worden. "Gleichstellung und Gleichberechtigung ist plötzlich ein ganz großes Thema in der Öffentlichkeit", sagte sie.
Die SPD hatte noch vor wenigen Tagen in ihrem Propagandablatt "Vorwärts" für das verfassungsfeindliche Gesetz getrommelt. Dementsprechend ungern möchte man dort jetzt klein beigeben. Die nordrhein-westfälische SPD-Fraktion etwa möchte ihren Plänen festhalten, ein solches Gesetz weiterhin im eigenen Bundesland zu etablieren:
"Von Anfang an war klar, dass wir bei der Einbringung des Gesetzentwurfes mit Widerständen zu rechnen haben. Wir lassen uns durch diese Urteile nicht von unserem Weg abbringen", erklärten Fraktionsvize Regina Kopp-Herr und die Gleichstellungsexpertin Anja Butschkau am Freitag.
Die Berliner Grünen halten ein Paritätsgesetz zur Besetzung der Kandidatenlisten von Parteien für zu kurz gegriffen.
"Ein einfaches Gesetz reicht nicht aus, damit Frauen gleichbeteiligt an politischen Entscheidungen mitwirken können", sagte die Grünen-Fraktionsvorsitzende im Berliner Abgeordnetenhaus, Silke Gebel. Nach einem Vorschlag der Grünen sollte die im Grundgesetz verankerte Gleichberechtigung der Geschlechter in der Berliner Verfassung mit einem eigenen Passus gestärkt werden. (…) Eine verfassungsgemäße Lösung sei noch nicht gefunden, der politische Handlungsbedarf bleibe aber bestehen, sagte die frauenpolitische Sprecherin Ulle Schauws am Freitag. Die Entscheidung der Verfassungsrichter sei "bitter für alle, die den Gleichstellungsauftrag aus dem Grundgesetz ernst nehmen".
(Tatsächlich gibt es keinen "Gleichstellungsauftrag im Grundgesetz", und dieser Auftrag wird durch ständiges Wiederholen dieser Behauptung auch nicht hineingezaubert.)
Peter Ritter, der gleichstellungspolitische Sprecher der Linksfraktion im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern, befindet:
"Es ist ein schwerer Rückschlag, dass das Verfassungsgericht das hart erkämpfte Gesetz für die Gleichstellung in Volksvertretungen des Landes Brandenburg gekippt hat. So bleibt unsere Gesellschaft auch im Jahr 102 nach Einführung des Wahlrechtes für Frauen in Deutschland meilenweit von einer tatsächlichen Gleichstellung in Politik und demokratischer Teilhabe entfernt."
Wie das Neue Deutschland berichtet, war gegen die Entscheidung der Thüringer Verfassungsrichter ohnehin bereits Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingereicht worden.
Es soll die Entscheidung aus Weimar prüfen. Zudem hatten die Fraktionen von Linke und Grünen erklärt, sich einen neuen Anlauf für ein Paritätsgesetz durchaus vorstellen zu können. Die Sondervoten hätten die juristischen Spielräume aufgezeigt, erklärte die Linke-Fraktionsvorsitzende Susanne Hennig-Wellsow nach dem Urteil.
Ähnliches kündigte die Vorsitzende der Brandenburger Linken, Katharina Slanina, an: "Das Gericht hat in seinem Urteil bereits erste Hinweise auf notwendige Änderungen in der Landesverfassung gegeben." Man gehe zudem davon aus, dass auch die Parteien der Regierungskoalition an einem zügigen Neuanlauf interessiert seien, und stehe für entsprechende Gespräche zur Verfügung, so Slanina. Fraktionsvorsitzende Dannenberg sagte: "Gerade jetzt sehen wir uns darin bestärkt, dass im Rahmen einer Verfassungsreform auch dieser Bereich geprüft werden muss."
Spiegel-Online fasst zusammen, was das Urteil des Landesverfassungsgerichts für das feministische Wahlrecht realistisch betrachtet bedeutet:
Zum einen dürfte nun klar sein, dass vergleichbare Gesetze wohl kaum ohne Verfassungsänderung möglich sind. (…) Zum anderen zeigt das Urteil den Parteien: Wer Gleichstellung von Männern und Frauen nicht will, der muss sie auch nicht umsetzen.
Jelena von Achenbach, die Prozessbevollmächtigte des brandenburgischen Landtags,
ist enttäuscht, dass ihre Argumentation so wenig Widerhall fand. "Ich habe nicht damit gerechnet, dass sie einstimmig entscheiden", sagt sie. Anders als die Juristin, die das Thüringer Gesetz verteidigte, will sie keine Beschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht einreichen. Sie hält ein solches Vorgehen für wenig aussichtsreich.
Auf genau dieses Vorgehen setzt indes Rita Süßmuth (CDU). Für sie sind die Entscheidungen der Landesverfassungsgerichte "nicht nachvollziehbar", weshalb sie dafür ist, das Bundesverfassungsgericht anzurufen. Die Darlegung der Brandenburger Richter, durch ein Paritätsgesetz würden Männer diskriminiert, erkennt Süßmuth nicht an:
"Wenn man von Diskriminierung sprechen will, dann ist es Diskriminierung von Frauen. Dazu gehört auch, dass der Abbau von Benachteiligung von Frauen Nachteile für Männer zur Folge hat. Diese wurden aber vom Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof bereits im Zusammenhang mit Quotenregelungen für den öffentlichen Dienst als zulässig deklariert."
Die Süddeutsche Zeitung schlägt eine andere Lösung vor, um das feministische Wahlrecht doch noch durchzusetzen:
Ein Blick nach Frankreich zeigt, wie es gehen könnte. Dort ist die Parität bei der Aufstellung der Wahllisten an die Parteienfinanzierung geknüpft. Die volle staatliche Unterstützung bekommt nur, wer die Wahllisten gleichermaßen mit Frauen und Männern besetzt. Das ist ein starker Anreiz und lässt trotzdem jeder Partei die Möglichkeit, selbst zu entscheiden.
Zuletzt zwei in Gänze lesenswerte Beiträge zu dieser Debatte:
Das Blog "Die Demokratie in den Zeiten des Feminismus" bewertet das Urteil als "Schlag ins Gesicht der Verfassungsfeinde".
Die Frankfurter Allgemeine urteilt: "Paritätsgesetze sind undemokratisch und anmaßend".
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