Lesermail (Die übliche sexistische Manipulation durch die Leitmedien)
Einer meiner Leser mailt mir heute:
Soeben ist mir beim Stöbern ein Artikel der Süddeutschen Zeitung ins Auge gefallen. Von 277 Morden an Frauen im Jahr 2014 ist da die Rede, 140 bisher 2015. Und natürlich protestieren die Argentinier zu zehntausenden ob so einer Tragödie, fordern speziellen Schutz für weibliche Menschen, und haben als Schuldigen die "Macho-Kultur" ausgemacht. Es folgen Einzelfalls-Schilderungen, um die SZ-Leser an ihren Gefühlen zu packen, und zu guter Letzt ein nicht unwichtiger Hinweis: In Argentinien ist ein Frauenmord nicht nur Mord. Es sei ein ganz speziell schlimmer Mord, ein "verschärfter Tatbestand", und werde härter bestraft als ein Männermord. Wie diese Gesetzgebung zu der erwähnten angeblichen Objektifizierungs-Kultur passt ("Die Frau wird zum Objekt gemacht und es wird daher immer jemanden geben, der meint, wenn er sie nicht besitzen kann, kann er sie kaputtmachen")? Dazu schweigt der Artikel. Und dann, zur Abrundung, noch einmal "277 Morde im Jahr" anders formuliert: Ein Frauenmord alle 31 Stunden.
Was der Artikel schuldig bleibt? Jeglichen Kontext. Kein einziges Wort beispielsweise, wie viele Männer im Jahr in Argentinien ermordet werden. Also schnell Google angeworfen, und eine interessante Seite gefunden.
Um es kurz zu machen, möchte ich mich auf zwei Karten (Maps > "Male homicide rate by country or territory (2012 or latest year)", und Maps > "Female homicide rate by country or territory (2012 or latest year)") und eine handvoll Zahlen beschränken (aus der "Global Study on homicide 2013", verlinkt links oben):
- Im Jahr 2010 wurden in Argentinien 2.237 Morde verübt (Seite 126).
- Nach Geschlecht gesplittet wurden 16,4% der Morde in Argentinien an Frauen begangen, die übrigen 83,6% an Männern (Seite 136). In Zahlen waren das 1.870 tote Männer und 367 tote Frauen (wenn ich mich nicht verrechnet habe). Alle vier Stunden ein Mann also.
- Weiter hebt der Bericht hervor, dass Argentinien eine – für Südamerika – niedrige Mordrate habe ("[...] countries in the southern part of South America, such as Argentina, Chile and Uruguay, have considerably lower levels of homicide than countries further north [...]", Seite 22).
- Im internationalen Vergleich der Weltkarten fällt auf, dass die Mordrate an Frauen tatsächlich "europäisch niedriges" Niveau erreicht (Mordrate im Bereich von 0-2.99), während die der Männer relativ höher ausfällt (5-9.99). Nebenbei: Ganz generell werden überall auf der Welt mehr Männer als Frauen ermordet, wenn man beide Karten liest.
Über all das steht natürlich im Artikel der Süddeutschen Zeitung kein Wort.
Alle 31 Stunden eine Frau, das ist schrecklich, gebt mir einen Artikel, sofort!
Alle 4 Stunden ein Mann? Ach, geh'! Trivialitäten!
So trivial, dass wir solche Infos auch lieber gleich ganz aus den Artikeln rauslassen, die sich drum drehen, wie schwer es Frauen allüberall auf der ganzen Welt haben. Ganz besonders in Ländern, wo sich die Mordrate an Frauen nicht von der in Mitteleuropa unterscheidet, die von Männern aber schon. Schreiben wir doch lieber rein, dass Frauenmord da besonders schwer geahndet wird. Das passt gut in unser narratives Konstrukt, wie schlimm es um die Frauen steht. Immerhin müssen die besonders geschützt werden, oder?
In der Hinsicht möchte ich Thomas Meyer aus seinem aktuellen Interview mit Telepolis zitieren: "Die Wirklichkeitspartikel, die Medien aus der realen Welt aufnehmen, werden von ihnen intensiv bearbeitet und was dann dabei herauskommt, ist eine Neuinszenierung der Welt und hat mit der Realität oft nicht sehr viel zu tun."
Dafür scheint dieser Artikel der Süddeutschen Zeitung ein weiteres eindrucksvolles Beispiel zu sein. Fakten werden gefiltert, gesiebt und neu verpackt (277/Jahr versus 31/Stunde), andere schlicht nicht aussortiert, und so ein Bild gebastelt, dass eine nette und schockierende Geschichte erzählt, mit der Realität aber nur noch insofern etwas zu tun hat, als sie diese bis ins Gegenteil verdreht.
Natürlich schürt nicht nur die Süddeutsche Zeitung den Sexismus. Da der Artikel auf einer AFP/dpa-Meldung beruht und Journalisten bei solchen themen grundsätzlich keine Lust mehr haben, kritisch zu hinterfragen und einen Kontext zu leifern, findet man denselben Mist heute unter anderem bei Bild, Stern, im Deutschlandradio und auf Spiegel-Online. Letzere Plattform erlaubt Leserkommentare, und gleich der erste liefert das kritische Fragen, das man von Journalisten heutzutage nicht mehr erwarten darf:
Wo genau ist jetzt der Unterschied zwischen einem Mord an einem Mann oder einem Jungen und einem Mord an einer Frau oder einem Mädchen? Wie kann es sein, dass für ein und dasselbe verabscheuungswürdige Verbrechen geschlechtsspezifisch ein unterschiedliches Strafmaß gibt und das auch noch ernsthaft als etwas positives dargestellt wird? Aber das ist sicherlich Gleichberechtgung ...
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