Dienstag, Oktober 15, 2024

"Eine günstige Gelegenheit, den lästig gewordenen Ehemann loszuwerden": Die Schicksale hinter dem Eintritt in die russische Armee

1. In der Neuen Zürcher Zeitung berichtet die russische Schriftstellerin Sonja Margolina, wozu es führt, dass der russische Staat mittlerweile immer höhere Entschädigungen zahlen muss, um Freiwillige für den Einsatz in der Ukraine zu mobilisieren.

Der für russische Verhältnisse enorme und immer höher steigende Sold und das üppige "Grabesgeld" machen den Kontrakt mit der Armee und das Risiko, als Kanonenfutter zu enden, attraktiv.

Das Töten von Menschen und die Möglichkeit des eigenen Tods hält die 1983 in Leningrad geborene Journalistin und Dichterin Xenia Bukscha in ihrem Aufsatz "Ökonomie der Verzweiflung" in der "Nowaja Gaseta" für eine durchaus rationale ökonomische Wahl. In vielen abgehängten Regionen befänden sich Menschen in einer deprimierenden Lage, in der sie weder sich selbst helfen noch Unterstützung hätten finden können. Wegen Problemen mit Wohnen, Gesundheit, Arbeit oder ihren Nächsten steckten sie in einer Sackgasse. Um da herauszukommen, hätten sie sich bei Banken verschuldet und Mikrokredite aufgenommen, deren Tilgung oft vierzig Prozent des Monatsgehalts aufzehrten. Unter einer solchen finanziellen und psychologischen Last zu leben, sei unerträglich und erniedrigend.

Vor diesem Hintergrund ist auch die selbst im Vergleich mit armen Entwicklungsländern ungewöhnlich niedrige Lebenserwartung der russischen Männer zu erklären. Im Jahre 2022 verloren 70 000 ihr Leben an Wodka, Drogen und Selbstmord. Glaubt man den offiziellen Zahlen der russischen Opferzahlen in der Ukraine, dann scheint der Krieg weniger verlustreich zu sein als der Frieden, in dem die in die sozialökonomische Sackgasse geratenen Männer mittleren Alters an Verzweiflung sterben.

(…) Auch nach der Scheidung müssen die Partner oft eine Wohnung teilen, weil der Mann sich weigert auszuziehen oder er sich die Trennung nicht leisten kann. In einer solchen Sackgasse gefangen, träumen nicht wenige Partnerinnen, aber auch die Mütter der verlorenen Söhne davon, die zur Last gewordenen und oft gewalttätigen Taugenichtse loszuwerden. Den Familienangehörigen bietet der Krieg in der Ukraine oft die Möglichkeit, nach dem Tod ihrer Männer nicht nur an unvorstellbar viel Geld zu kommen, sondern auch wieder frei atmen zu können.

Bereits nach der Teilmobilisierung im Herbst 2022 erschienen in den Dating-Chats Anzeigen von auf diese Weise reich gewordenen jungen Witwen, die auf der Suche nach einem neuen Partner waren. Es kommt auch vor, dass Ehefrauen ihre Gatten beim Wehramt denunzieren. Eine häufige Frage an das juristische Online-Portal Pravoved lautet daher: "Wie kann ich meinen Ehemann zur SVO (Spezialoperation) schicken, ohne dass er davon erfährt? Er will nicht arbeiten."

(…) Der Fernsehkanal Currenttime.tv hatte im Frühjahr 2024 Interviews mit Männern veröffentlicht, die von ihren Müttern und Ehefrauen in den Krieg getrieben worden waren, auch wenn diese keine wirklichen Geldsorgen hatten.

Sergei, der Flugblätter gegen den Krieg verbreitet hatte, wurde vorübergehend festgenommen und hatte sich für die Ausreise ins Ausland entschieden. Seine Mutter war empört und warf ihm vor, dass er seine Heimat nicht schützen wolle. Sie suchte etwas, erzählte er, um stolz auf mich sein zu können. "Du wirst als Mann sterben. Alle werden stolz auf dich sein ... Deine Frau wird die Witwe eines Helden sein." Sie hatte seinen jüngeren Bruder angestiftet, zum Wehramt zu gehen und dort zu erzählen, dass Sergei vorhabe, vor der Mobilisierung zu fliehen.

Georgi, der ebenfalls emigrieren wollte, musste sich von seiner Mutter anhören: "Vielleicht solltest du es doch probieren, es könnte ja sein, dass du lebend zurückkehrst." Eine junge Frau namens Anna erzählte Currenttime.tv die Geschichte ihrer Schulfreundin, die ihren ungeliebten Mann wegen des enormen Solds von 80 000 Dollar an die Wagner-Gruppe "verkauft" haben soll. Im letzten Monat schwanger, setzte sie ihn ins Auto und fuhr mit ihm zum Wehramt.

(…) Die Verführung der Gesellschaft mit Geld, argumentiert die ehemalige Vorsitzende der "Soldatenmütter von Petersburg", die 81-jährige Ella Poljakowa, habe mit der Armut, aber auch damit zu tun, dass viele Familien durch die Kriege zerstört worden seien. Im Ergebnis waren viele Mütter mit Söhnen zurückgeblieben, die keinen "Wert" mehr hatten und die man als "wertlos" empfand. Hypotheken, Kredite, Mikrokredite, all die Schulden drückten auf das Bewusstsein. Es ging nur noch um nacktes Überleben.


Um Barack Obama zu zitieren: Männlichkeit bedeutet, "eine schwere Last zu tragen, ohne sich zu beschweren."



2. Telepolis berichtet über die immer deutlicher zurückgehenden Anmeldungen zum Wehrdienst in den USA:

Von den Männern in den USA, die 2023 das 18. Lebensjahr vollendet haben, haben sich weniger als 40 Prozent für den Wehrdienst gemeldet – gegenüber mehr als 60 Prozent im Jahr 2020 vor Beginn des Krieges in der Ukraine.

(…) Laut Gesetz müssen sich amerikanische Männer innerhalb von 30 Tagen nach ihrem 18. Geburtstag registrieren lassen. Öffentliche Erklärungen von Befürwortern der Wehrpflichtregistrierung rechtfertigen die Vorbereitung auf die Wehrpflicht als notwendig für nationale Notfälle, Selbstverteidigung oder angebliche existenzielle Bedrohungen wie eine chinesische Invasion auf dem amerikanischen Festland.

(…) Die meisten Männer melden sich schließlich, aber oft erst Jahre, nachdem sie am besten für die Wehrpflicht geeignet sind. Das SSS erlaubt Männern, sich bis zu ihrem 25. Geburtstag ohne Sanktionen zu registrieren. Einige Männer zögern die Registrierung absichtlich oder unabsichtlich hinaus, bis sie fast 25 Jahre alt sind.

Auf diese Weise minimieren sie ihr Risiko, der Wehrpflicht unterworfen zu werden, während sie gleichzeitig ihren Anspruch auf eine Beschäftigung auf Bundes- oder Staatsebene oder auf die Teilnahme an anderen Programmen in ihrem späteren Leben wahren.


Wie Telepolis näher ausführt, wird die Wehrpflicht sowohl von Donald Trump als auch von Kamala Harris unterstützt.



3. In einem Essay von Hanna Voss über die Kriege im Nahen Osten geht es auch um Männerfeindlichkeit in der propagandistischen Berichterstattung vieler Medien:

Die libanesische Autorin Lina Mounzer schreibt dieser Tage von der systematischen Entmenschlichung arabischen Lebens: "Die westliche Presse übersetzt uns in eine Sprache, die ihnen unsere Auslöschung erträglicher macht. Unsere Viertel sind nicht mehr die Orte, an denen wir spielten, aufwuchsen, Kinder großzogen und Freunde besuchten – sie sind Hochburgen." Die Leiber unserer Männer sind nicht mehr die geliebten Körper, an die wir uns schmiegten, die Hände, die uns hielten oder die starken Arme, die uns trugen, die weichen Lippen, die uns gute Nacht küssten. Sie sind 'Verdächtige', 'Militante', 'Terroristen', und ihr Tod ist immer gerechtfertigt, denn sie sind Männer, und unsere Männer sind Schurken – und so war es schon immer, so sind wir schon immer gewesen, für sie."

Auch ich erwähne in diesem Text, wie mir dann bewusst wird, explizit die getöteten Frauen und Kinder, weil ich denke, dass getötete arabische Männer in Deutschland sowieso automatisch als Terroristen gelten. Die Großväter, Brüder und Onkel, die Apotheker, Taxifahrer und Tierärzte. Ich kann deshalb nur im Ansatz ahnen, was arabischstämmige Menschen in Deutschland immer wieder erleben. Wie abfällig und geringschätzig man sie beäugt, wie sie alle miteinander in einen Topf geschmissen werden, Antisemiten sowieso, sind die ja alle, Deckel drauf, fertig.




4. Italien hat die ersten männlichen Migranten nach Albanien zurück geschickt. Frauen und Kinder werden weiterhin nach Italien gebracht.



5. Die "Frankfurter Allgemeine", die es in einem ganzseitigen Artikel noch für kompletten Unfug erklärte, was ich über die gesellschaftlichen Nachteilen für Männer zu sagen hatte, kommt in einem aktuellen Beitrag (Bezahlschranke) allmählich auf den Trichter. Wie Rainer Hank findet, "sollte man die Frage, wo die Opfer stecken, neu justieren".

Ein paar Daten: Seit Wintersemester 2021/2022 studieren erstmalig mehr Frauen als Männer an deutschen Hochschulen. In einer ganzen Reihe reicher Länder ist inzwischen der Anteil der Frauen mit einem Diplom höher als der der Männer. In den USA und Großbritannien beträgt der Unterschied jeweils mehr als zehn Prozent. Im Vereinigten Königreich sind inzwischen mehr junge Frauen in Lohn und Brot als junge Männer. Auch das Gender-Pay-Gap beginnt sich zu drehen.

Das sind Daten der OECD, die ich einem statistischen Überblick der „Financial Times“ von Mitte September entnehme. Man könnte eine Erfolgsfanfare erschallen lassen, gäbe es nicht eine Kehrseite. Das sind die jungen Männer. Sie fühlen sich im Wettbewerb mit den überholenden Frauen überfordert und nicht zu besseren Leistungen herausgefordert. Stattdessen neigen sie zu Resi­gnation. Über alle OECD-Länder hinweg wächst der Anteil junger Männer, die sich nicht in Job oder Lehre befinden. In Großbritannien, Frankreich, Spanien und Kanada befinden sich inzwischen mehr junge Männer als Frauen abseits gesellschaftlicher Teilhabe. So etwas gab es seit dem Beginn der Industrialisierung nicht. (…) Die Ausbildungsvergütungen für Mädchen sind inzwischen höher als für Jungen. Die Löhne und Gehälter in vergleichbaren Berufen und bei vergleichbaren Qualifikationen lassen bis ungefähr zum dreißigsten Lebensjahr keine Diskriminierung mehr erkennen.


Rainer Hank stellt klar:

Wenn junge Frauen weder in Ausbildung noch in Arbeit sind, dann weil sie sich auf Familie und Kinder fokussieren. Das ist bei jungen Männern nicht der Fall. Sie machen buchstäblich nichts, leiden zunehmend unter psychischen Krankheiten. Und neigen dazu, populistische und extremistische Parteien (seien sie rechts- oder linksextremistisch) zu wählen.


Bemerkenswert ist das Fazit des Artikels:

Ich fasse zusammen: Die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern in der Arbeitswelt ändern sich dramatisch. Die alten Narrative – Frauen sind immer Opfer – werden dagegen unverändert weitererzählt. Dabei sind im Zeitverlauf die Frauen die wahren Gewinner wachsender Gleichberechtigung. Das ist ein Fortschritt, den Frauen und Männer feiern sollten, statt die alten Weinerlichkeiten zu pflegen.


Dass Männer ebenso politisch für eine Verbesserung ihrer Situation eintreten sollten, wie das seit über 50 Jahren die Frauen tun – so weit ist die Frankfurter Allgemeine noch nicht.



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