Donnerstag, Februar 04, 2021

Wissenschaftler schließen sich gegen Cancel Culture zusammen

Spiegel-Online berichtet:

Sie monieren eine "zunehmende Verengung von Fragestellungen, Themen und Argumenten in der akademischen Forschung", wie es in ihrer Pressemitteilung heißt – 70 Wissenschaftler aus dem deutschsprachigen Raum haben sich zu dem Netzwerk Wissenschaftsfreiheit zusammengeschlossen. Zu den Forschern gehören unter anderem der Historiker Andreas Rödder, die Politikwissenschaftlerin Ulrike Ackermann und die Migrationsforscherin Sandra Kostner, die als Sprecherin fungiert.


Das ist schon mal sehr gut: Ich habe Sandra Kostners Buch Identitätslinke Läuterungsagenda mit Gewinn gelesen und in eigenen Veröffentlichungen zitiert.

In der Pressemitteilung heißt es über die Wissenschaftler weiter:

Ihre Sorge gilt einer zunehmenden Verengung von Fragestellungen, Themen und Argumenten in der akademischen Forschung. Vielerorts ist an den Universitäten ein Klima entstanden, in dem abweichende Positionen und Meinungen an den Rand gedrängt und moralisch sanktioniert werden. Diese Einschränkungen der Wissenschaftsfreiheit, folgen häufig einer ideologischen oder politischen Agenda. Sie behindern eine rationale und ergebnisoffene Suche nach Erkenntnis, die den Kern der Freiheit der Wissenschaft in der Tradition der Aufklärung ausmacht. Cancel Culture und Political Correctness haben die freie und kontroverse Debatte auch von Außenseiterpositionen vielerorts an den Universitäten zum Verschwinden gebracht.

Mit ihrem Appell und der Gründung des Netzwerkes wollen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Voraussetzungen freiheitlicher Forschung und Lehre verteidigen und stärken. Sie setzen sich für eine von Sachargumenten und gegenseitigem Respekt geprägte Debattenkultur ein. Intellektuelle Freiheit, Neugierde und wissenschaftlicher Pluralismus sind dafür unabdingbar.


Noch mehr verrät das Gründungsmanifest des Netzwerks:

Wir beobachten, dass die verfassungsrechtlich verbürgte Freiheit von Forschung und Lehre zunehmend unter moralischen und politischen Vorbehalt gestellt werden soll. Wir müssen vermehrt Versuche zur Kenntnis nehmen, der Freiheit von Forschung und Lehre wissenschaftsfremde Grenzen schon im Vorfeld der Schranken des geltenden Rechts zu setzen. Einzelne beanspruchen vor dem Hintergrund ihrer Weltanschauung und ihrer politischen Ziele, festlegen zu können, welche Fragestellungen, Themen und Argumente verwerflich sind. Damit wird der Versuch unternommen, Forschung und Lehre weltanschaulich zu normieren und politisch zu instrumentalisieren. Wer nicht mitspielt, muss damit rechnen, diskreditiert zu werden. Auf diese Weise wird ein Konformitätsdruck erzeugt, der immer häufiger dazu führt, wissenschaftliche Debatten im Keim zu ersticken.

Hochschulangehörige werden erheblichem Druck ausgesetzt, sich bei der Wahrnehmung ihrer Forschungs- und Lehrfreiheit moralischen, politischen und ideologischen Beschränkungen und Vorgaben zu unterwerfen: Sowohl Hochschulangehörige als auch externe Aktivisten skandalisieren die Einladung missliebiger Gastredner, um Druck auf die einladenden Kolleginnen und Kollegen sowie die Leitungsebenen auszuüben. Zudem wird versucht, Forschungsprojekte, die mit den weltanschaulichen Vorstellungen nicht konform gehen, zu verhindern und die Publikation entsprechend missliebiger Ergebnisse zu unterbinden. Von besonderer Bedeutung sind dabei die mittelbaren Wirkungen dieser Druckmaßnahmen: Sie senden das Signal, dass man auf den "umstrittenen" Gebrauch seiner Forschungs- und Lehrfreiheit künftig besser verzichte. Die Etikettierung als "umstritten" stellt dabei den ersten Schritt der Ausgrenzung dar.

Wir beobachten damit die Entstehung eines Umfelds, das dazu führt, dass Hochschulangehörige ihre Forschungs- und Lehrfreiheit selbst beschränken, weil sie antizipieren, mit Äußerungen, Themenstellungen oder Veranstaltungen als Person diskreditiert zu werden. Solche präventiven Einschränkungen erfolgen vor allem dann, wenn die Betroffenen die Erfahrung gemacht haben, dass denjenigen, die ins Visier des ideologischen Aktivismus geraten, wegen des Risikos, selbst zur Zielscheibe zu werden, niemand beispringt.

Wenn Mitglieder der Wissenschaftsgemeinschaft aus Furcht vor den sozialen und beruflichen Kosten Forschungsfragen meiden oder sich Debatten entziehen, erodieren die Voraussetzungen von freier Wissenschaft. Eine solche Entwicklung wirkt sich negativ auf die Leistungsfähigkeit der Hochschulen und damit auf den Wissenschaftsstandort Deutschland und seine internationale Reputation aus.


Als selbstgesteckte Ziele werden die folgenden Punkte genannt:

Hauptziel des Netzwerkes ist es, die Voraussetzungen freiheitlicher Forschung und Lehre an den Hochschulen zu verteidigen und zu stärken. Dazu wird das Netzwerk

* allen Versuchen entgegenwirken, die wissenschaftliche Arbeit von Hochschulangehörigen einzuschränken. Grenzen dieser Freiheit sind ausschließlich Verfassung und Gesetz;

* sich aktiv dafür einsetzen, dass intellektuelle Freiheit und wissenschaftlicher Pluralismus in Forschungsfragen, Forschungsansätzen und Forschungsmethoden als selbstverständlich gelten und dass die argumentative Auseinandersetzung mit anderen Ansätzen und Perspektiven stattfindet, auch und gerade, wenn sie inhaltlich nicht geteilt werden;

* für eine Debattenkultur eintreten, in der alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Studierenden ihre Erkenntnisinteressen frei von Sorgen vor moralischer Diskreditierung, sozialer Ausgrenzung oder beruflicher Benachteiligung verfolgen und ihre Argumente in Debatten einbringen können. Wir bestehen darauf, dass Debatten von gegenseitigem Respekt geprägt sind und Ad-hominem-Argumente unterbleiben.


Vor diesem Hintergrund sind die folgenden Aktivitäten genannt:

Das Netzwerk stellt die Bedeutung der Forschungs- und Lehrfreiheit durch öffentliche Veranstaltungen heraus, analysiert Gefährdungen der gelebten Wissenschaftsfreiheit, legt Fälle ihrer Einschränkung offen und entwickelt Gegenstrategien.

Darüber hinaus organisiert das Netzwerk Debattenformate, die zu unterschiedlichen Themen möglichst viele Perspektiven zusammenbringen, die in einem offenen intellektuellen Klima ausgetauscht werden.

Schließlich unterstützt das Netzwerk Kolleginnen und Kollegen sowie all diejenigen, die sich Angriffen auf ihre Wissenschaftsfreiheit ausgesetzt sehen.


Es wird niemanden verwundern, dass mehrere Mitglieder dieses Netzwerks auch von mir immer wieder zustimmend zitiert wurde, ob hier auf Genderama ooder in einem meiner Bücher. Dazu zählen der Philosoph Robert Pfaller und die Juraprofessoren Holm Putzke und Tonio Walter.

Das Polit-Magazin CICERO hat Professor Maria-Sibylla Lotter, die an der Ruhr-Universität Bochum Ethik und Ästhetik unterrichtet und Gründungsmitglied dieses Netzwerks ist, dazu interviewt (Bezahlschranke). Ein Auszug:

Professor Lotter: Es gibt eine Art selbstorganisierte Unfreiheit der Wissenschaften, eine Lähmung der Streitkultur. Das ist mittlerweile in manchen Fächern zu einem massiven Problem geworden. Sie ist paradoxerweise die Spätfolge einer moralisch-politischen Reformbewegung, die eigentlich sehr gute Ziele verfolgt, nämlich für die gleichberechtigte Partizipation von Frauen, Schwarzen und Minderheiten, die früher aus dem universitären Diskurs mehr oder weniger ausgeschlossen waren. Sie ging ursprünglich von den Emanzipationsbewegungen aus: von der Schwarzen-, der Frauen, teilweise auch der Schwulenbewegung. In ihren frühen Stadien ging es um Toleranz und Gleichberechtigung.

CICERO: Ist das dann der Punkt, an dem es dogmatisch wird?

Lotter: Im Moment zumindest leiden wir daran, dass die Auseinandersetzungen nicht mehr mit Humor und Leichtigkeit geführt werden. Vieles hat einen autoritären und puritanischen Unterton bekommen und kommt tantenhaft daher. Das puritanisch-Tantenhafte entspringt auch einem schlechten Gewissen: Männer haben ein schlechtes Gewissen gegenüber Frauen, Weiße gegenüber People of Color, Heterosexuelle gegenüber Schwulen, Transgender, etc.. Dieses schlechte Gewissen führt schnell zu einem Kompensationsbedürfnis, und ich denke, aus diesem unfreien Gemütszustand entspringt vieles, was wir jetzt beklagen. Mich erinnert das ein wenig an die repressiven Familienatmosphären in der Generation meiner Großeltern.

(…) CICERO: Würden Sie sagen, dass die Geisteswissenschaften eher davon betroffen sind, als die Naturwissenschaften?

Lotter: Ja. Die Germanistik zum Beispiel spielt bei dieser Entwicklung eine große Rolle, natürlich auch die Gender Studies. Aber es sind auch Teile der Naturwissenschaften betroffen, etwa die Biologie. Versuchen Sie mal in einem biologischen Seminar über Genetik und Vererbung zu sprechen sowie über die Frage, wie weit Weiblichkeit etwas Angeborenes oder etwas kulturell anerzogenes ist. Das ist ein Minenfeld.

(…) CICERO: Wie könnte man diesem Dilemma denn entkommen?

Lotter: Ich denke, das geht nur, indem man aktiv für eine Streitkultur wirbt. Man muss in der Praxis immer wieder vorführen, dass die gelebte Debatte möglich ist. Aktuell wird viel über Verbote und Angst geregelt. In einem solchen Klima wird man vorsichtig. Ich denke, wir müssen jetzt zeigen, dass eine gute Streitkultur mehr Freude macht und auch viel integrationsfähiger ist als die Erstarrung in vorsichtigen Sprachhülsen. Denn eine gute Streitkultur bietet allen die Möglichkeit, Empfindlichkeiten abzubauen und ein eigenes Selbstbewusstsein auszubilden. Das ist wesentlich effektiver, als wenn man sich als Opfer deklariert und sich in eine Art universitären Sicherheitsraum zurückzieht.


Die Frankfurter Allgemeine berichtet über die Pressekonferenz, auf der das Netzwerk vorgestellt wurde.

Dass diese Öffnung der Debattenräume gerade für maskulistische Wissenchaftler ein Gewinn wäre, brauche ich wohl kaum noch zu betonen. Eine Rezeption unserer Forschungsarbeit wird in den Genderstudien seit Jahren verweigert; stattdessen bekommt man es kontinuierlich mit teils bodenlosen Ad-personam-Angriffen zu tun.

Wie grotesk solche Ausgrenzungen werden können, zeigte vor allem der internationale Wissenschaftskongress "Familienkonflikte gewaltfrei austragen", bei dem unter der Leitung von Professor Gerhard Amendt Experten aus den verschiedensten Ländern zum Thema "Häusliche Gewalt" referierten. Vermutlich weil absehbar war, dass sich der aktuelle Forschungsstand nicht in das ideologische Schema von häuslicher Gewalt als "patriarchale Gewalt gegen Frauen" einfügen ließ, wurde der Kongress vorab als "Homoheiler-Kongress" denunziert, und seine Ausrichtung sollte unterbunden werden. "Das Verbreiten solcher Vorstellungen darf an der Goethe-Universität keinen Platz haben", forderte etwa der Goethe-Alumni Manuel Stock. Auch bei der SPD dachte man offenbar, wenn irgendwelche Aktivisten von einem "Homoheiler-Kongress" sprechen, würde es wohl stimmen. So befand der sozialdemokratische Stadtverordnete Thomas Bäppler-Wolf: "Eine öffentlich finanzierte und wissenschaftlich renommierte Institution wie die Goethe-Universität sollte sich dafür nicht einspannen lassen, indem sie Räume zur Verfügung stellt."

Die Veranstalter des Kongresses mussten in mehreren Fällen Verleumdungen beziehungsweise Üble Nachrede erst einmal wegklagen. In einem Kommentar zu diesen Entwicklungen, der im Blog des Gymnasiallehrers Lucas Schoppe veröffentlicht wurde, heißt es:

Neben der angekündigten Zensur fällt Weiteres auf: Die Präsidentin brachte ein universitätseigenes Werteverständnis ins Spiel: "…insbesondere (solche) der Vielfalt und Gleichstellung der Geschlechter und Freiheit sexueller Selbstbestimmung". Demnach sollten Wissenschaftsfreiheit und das Recht auf freie Meinungsäußerung während dieses Kongresses einem wertepolitischen Vorbehalt unterliegen. Deshalb die Selbstgewissheit bei Abweichung "die Veranstaltung jederzeit abzubrechen". Werteverständnis tritt damit an die Stelle grundgesetzlich verbürgter Freiheiten. Das ist mittlerweile an einigen Universitäten nichts Ungewöhnliches mehr. Die unverblümte Ankündigung von Zensur hingegen war neu.

Hier kommt eine beunruhigende Tendenz zum Ausdruck. Die gender-feministische Ideologie duldet keine Kritik an der Selbstermächtigung von Vielfaltgruppen. Und sie setzt sich über Grundrechtsgarantien hinweg.

(…) Das präsidiale Drohschreiben hat unter Juristen Kopfschütteln und unter den Referenten aus den USA, Israel und England Entsetzen ausgelöst. (…) Denn auffällig ist, dass die Präsidentin der Universität der Panik der Kleingruppen nicht entgegengetreten ist. (…) An der Goethe-Universität hat die Verteuflung des Kongresses damit begonnen, dass das Präsidium Fake News in peinlicher Realitätsferne aufgesessen ist. Die mangelhafte Überprüfung der Bezichtigungen und Anfeindungen des wissenschaftlichen Leiters Prof. Amendt durch die Uni hat wie ein Brandbeschleuniger für seine Kritiker gewirkt. Emotionale Befindlichkeitsstörungen von Minderheiten verwandelten sich deshalb in politische Störaktionen. Ein Fehlalarm verzögerte die Eröffnung des Kongresses. Wegen eines weiteren musste das Kongresshotel abends geräumt werden. Halbwegs ungestört konnte der Kongress nur fortgeführt werden, weil Polizei und Sicherheitsdienste ihn drei Tage lang schützten.


Einige Zeit nach der Ausführung dieses Kongresses befand Brigitta Wolf, Präsidentin der Frankfurter Goethe-Universität in einem Interview mit der Frankfurter Neuen Presse:

Es gibt einen Unterschied zwischen Meinungsfreiheit und Wissenschaftsfreiheit. Und es gibt einen Unterschied zwischen Stammtischdiskussionen und wissenschaftlichen Diskussionen. (…) Wir wollen nicht der Stammtisch der Region sein. Was beispielsweise Herrn Amendt angeht: Ich glaube, dass für viele erkennbar wurde, dass es sich hier um unzureichende Wissenschaft handelt. Wir haben daraus gelernt und schauen jetzt noch genauer hin, wer unsere Räume mieten will.


Es wird kein einziger konkreter Vorwurf genannt, warum die internationalen Experten "unzureichende Wissenschaft" betrieben haben sollen. Tatsächlich orientierten sie sich exakt am Stand der Forschung zu innerfamiliärer Gewalt, die von den feministischen Spekulationen entscheidend abweicht. Dem unbenommen wird von der Präsidentin einer Universität (!) fröhlich weiter denunziert. (Die NGO Manndat hatte sich damals in einem Offenen Brief an Brigitta Wolf zu dieser Ungeheuerlichkeit geäußert.) Vor diesem Hintergrund passt es exakt, wenn das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit in seinem Manifest schreibt:

Einzelne beanspruchen vor dem Hintergrund ihrer Weltanschauung und ihrer politischen Ziele, festlegen zu können, welche Fragestellungen, Themen und Argumente verwerflich sind. Damit wird der Versuch unternommen, Forschung und Lehre weltanschaulich zu normieren und politisch zu instrumentalisieren. Wer nicht mitspielt, muss damit rechnen, diskreditiert zu werden.


Dass ich selbst mit meiner eigenen wissenschaftlichen Arbeit kontinuierlich von solchen unfeinen Methoden betroffen bin, sei hier nur als kurzer Nachsatz vermerkt.

Falls ich am Wochenende nicht von wichtigeren Meldungen überrollt werde, werde ich hier anlässlich dieser Debatte zwei Beiträge zum Thema "Wie man der woken Cancel Culture begegnen kann" bloggen.

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