150 weltweit führende Intellektuelle plädieren für Rückkehr zur Meinungsfreiheit
150 international führende Intellektuelle haben im Magazin "Harper's" einen offenen Brief gegen die sogenannte Cancel Culture veröffentlicht, also gegen das derzeit um sich greifende Ausmerzen aller Werke, die nicht in Übereinstimmung mit dem gegenwärtigen politischen Zeigeist stehen. Zu den Unterzeichnern gehören große Namen wie Noam Chomsky, Martin Amis, Margaret Atwood, Francis Fukuyama und Salman Rushdie sowie weniger bekannte Persönlichkeiten, die ich auch schon verschiedentlich positiv zitiert hatte, darunter durchaus lesenswerte liberale Feministinnen wie Cathy Young, Wendy Kaminer, Laura Kipnis und Nadine Strossen. Auch Gloria Steinem ist mit an Bord.
Dieser offene Brief Fehlentwicklungen anspricht, deren Opfer nicht zuletzt wir Männerrechtler vielfach geworden sind: Mein Lexikon der feministischen Irrtümer etwa wurde mit explizitem Hinweis auf den aktuellen politischen Meinungsdruck nicht verlegt; selbst die Bundeszentrale für politische Bildung fordert inzwischen Ausgrenzung und Repression politisch unerwünschter Stimmen. Aber auch über dieses frostige Klima beim Geschlechterthema hinaus unterstütze ich den offenen Brief und dokumentiere ihn hier deshalb in einer deutschen Übersetzung:
Unsere kulturellen Institutionen stehen vor einem Moment der Prüfung. Heftige Proteste für Rassen- und soziale Gerechtigkeit führen zu überfälligen Forderungen nach einer Polizeireform, zusammen mit breiteren Forderungen nach mehr Gleichheit und Integration in unserer Gesellschaft, nicht zuletzt in der Hochschulbildung, im Journalismus, in der Philanthropie und in den Künsten. Aber diese notwendige Abrechnung hat auch eine neue Reihe von moralischen Einstellungen und politischen Verpflichtungen verstärkt, die dazu neigen, unsere Normen der offenen Debatte und der Toleranz von Differenzen zugunsten ideologischer Konformität zu schwächen. Während wir der ersten Entwicklung applaudieren, erheben wir auch unsere Stimme gegen die zweite. Die Kräfte des Illiberalismus gewinnen in der ganzen Welt an Stärke und haben mit Donald Trump einen mächtigen Verbündeten, der eine echte Bedrohung für die Demokratie darstellt. Aber der Widerstand darf sich nicht zu einem eigenen Dogma oder Zwang verfestigen, den rechte Demagogen bereits ausnutzen. Die demokratische Integration, die wir wollen, kann nur erreicht werden, wenn wir uns gegen das intolerante Klima aussprechen, das auf allen Seiten entstanden ist.
Der freie Austausch von Informationen und Ideen, das Lebenselixier einer liberalen Gesellschaft, wird von Tag zu Tag enger. Während wir dies von der radikalen Rechten zu erwarten gewohnt sind, breitet sich in unserer Kultur auch die Zensur immer weiter aus: Intoleranz gegenüber gegensätzlichen Ansichten, ein Trend zu öffentlicher Beschämung und Ausgrenzung und die Tendenz, komplexe politische Fragen in einer blendenden moralischen Gewissheit aufzulösen. Wir halten den Wert einer robusten und sogar bissigen Gegenrede von allen Seiten hoch. Aber es ist heute nur allzu häufig zu hören, dass als Reaktion auf wahrgenommene Übertretungen von Reden und Gedanken schnelle und schwere Vergeltungsmaßnahmen gefordert werden. Noch beunruhigender ist, dass institutionelle Führer im Geiste einer panischen Schadensbegrenzung übereilte und unverhältnismäßige Strafen verhängen, anstatt überlegte Reformen durchzuführen. Redakteure werden entlassen, weil sie umstrittene Beiträge verfasst haben; Bücher werden wegen angeblicher mangelnder Authentizität zurückgezogen; Journalisten dürfen nicht über bestimmte Themen schreiben; gegen Professoren wird ermittelt, weil sie Literaturwerke im Unterricht zitiert haben; ein Forscher wird entlassen, weil er eine von Fachkollegen begutachtete akademische Studie in Umlauf gebracht hat; und die Leiter von Organisationen werden wegen manchmal nur ungeschickter Fehler gefeuert. Unabhängig von den Argumenten, die sich um jeden einzelnen Vorfall ranken, wurden die Grenzen dessen, was ohne die Androhung von Repressalien gesagt werden kann, immer enger gezogen. Wir zahlen bereits den Preis in einer größeren Risikoaversion unter Schriftstellern, Künstlern und Journalisten, die um ihren Lebensunterhalt fürchten, wenn sie vom Konsens abweichen oder es ihnen auch nur an ausreichendem Eifer bei der Zustimmung mangelt.
Diese erstickende Atmosphäre wird letztlich den wichtigsten Anliegen unserer Zeit schaden. Die Einschränkung der Debatte, sei es durch eine repressive Regierung oder eine intolerante Gesellschaft, schadet immer denen, denen es an Macht mangelt, und macht alle weniger fähig zur demokratischen Beteiligung. Der Weg, schlechte Ideen zu besiegen, ist durch Entlarven, Argumentieren und Überzeugen, nicht durch den Versuch, sie zum Schweigen zu bringen oder wegzuwünschen. Wir lehnen jede falsche Wahl zwischen Gerechtigkeit und Freiheit ab, die ohne einander nicht existieren können. Als Schriftsteller brauchen wir eine Kultur, die uns Raum für Experimente, Risikobereitschaft und sogar für Fehler lässt. Wir müssen uns die Möglichkeit bewahren, Meinungsverschiedenheiten in gutem Glauben und ohne schlimme berufliche Konsequenzen auszutragen. Wenn wir nicht genau das verteidigen wollen, wovon unsere Arbeit abhängt, sollten wir nicht erwarten, dass die Öffentlichkeit oder der Staat sie für uns verteidigt.
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