Dienstag, Juli 02, 2024

Eine Wehrpflicht nur für Männer? Das "verrät ein gewisses Potenzial an Menschenverachtung"

1. In der Berliner Zeitung beschäftigt sich Ralf Sonnenberg mit dem Thema Wehrpflicht. Ein Auszug:

Das Bundesverwaltungsgericht, so [Kathrin] Groh, fand 2006 "zumindest tragfähige, weil gewichtige Gründe für die Rechtfertigung dieser Ungleichbehandlung: Da Frauen typischerweise im familiären Bereich stärkeren Belastungen ausgesetzt werden als Männer, ist auch ihre völlige Herausnahme aus jeglichen Dienstverpflichtungen in Friedenszeiten gerechtfertigt. Dieser binäre Blick des Grundgesetzes auf die Wehrpflicht verstößt nicht gegen die Menschenwürde und produziert auch bereits deswegen kein verfassungswidriges Verfassungsrecht."

(…) Doch halten die Urteile der Richterinnen und Richter aus den Nullerjahren einer kritischen Befragung statt? Passen sie noch in die Gegenwart?

Mittlerweile leben ungefähr 41 Prozent der Deutschen in Singlehaushalten, für die das Argument einer ungleichen Lastenverteilung mangels einer Partnerschaft gar nicht zutrifft. Die Gerichte gingen in ihren Urteilen von einem traditionellen Familienbild aus, das schon damals nicht mehr die Realität großer Teile der Gesellschaft widerspiegelte.

Probleme wirft aber auch diese Begründung auf: "Da Frauen typischerweise im familiären Bereich stärkeren Belastungen ausgesetzt werden als Männer, ist auch ihre völlige Herausnahme aus jeglichen Dienstverpflichtungen in Friedenszeiten gerechtfertigt."

Die Vielfalt und Wandelbarkeit der zwischen den Geschlechtern gelebten intimen Beziehungen wird damit auf ein Bild heruntergebrochen, das eine in der Gegenwart noch vorhandene strukturelle Benachteiligung betont. Frauen werden damit weniger als handelnde, ihre Beziehungen mitgestaltende Subjekte denn als Leidtragende von seit jeher bestehenden, kaum variablen Verhältnissen wahrgenommen.

(…) Das dahinterstehende Rechtsverständnis verletzt nun aber die Menschenwürde. Denn es orientiert sich an biologischen Zugehörigkeiten statt am Individuum, was dem Grundgedanken der liberalen Demokratie zuwiderläuft. Dem Denken in Geschlechtskategorien korrespondiert das Denken in „Klassen“, wie es uns aus sozialistischen Gesellschaften geläufig war. Zur Erinnerung: Mit der Begründung, dass Kinder aus Arbeiter- und Bauernfamilien qua Herkunft strukturell benachteiligt seien, haben die Machthaber in dem 40-jährigen Bestehen der DDR vielen jungen Männern und Frauen, die aufgrund ihrer sozialen Herkunft als privilegiert und politisch unzuverlässig galten, das Abitur, das Studium und damit die freie Berufswahl verweigert.

Für eine Verfassungsänderung spricht vor allem: Die Wiederaufnahme der nur für Männer geltenden Wehrpflicht wäre eine für den Einzelnen derart schwerwiegende und weitreichende Diskriminierung, dass sie auch nicht durch den Verweis auf in der Gegenwart vielfach noch zwischen den Geschlechtern bestehende Asymmetrien wie den Gender-Care-Gap, den Gender-Pay-Gap oder den Gender-Pension-Gap gerechtfertigt werden könnte.

Denn die auszubildenden Rekruten verlieren nicht nur mehrere Monate an das Militär, sondern sie riskieren im Ernstfall Leib und Leben samt der Gefahr, neben körperlichen Verstümmelungen auch seelische Beeinträchtigungen in Gestalt posttraumatischer Belastungsstörungen davonzutragen. Die häufig noch ungleiche Lastenverteilung in Erziehung und Haushalt, durch welche Frauen in ihrer beruflichen Laufbahn und später auch in ihren Pensionsansprüchen Nachteile erleiden können, mit einer Zwangssituation wie der des Wehrpflichtigen auf eine Stufe zu stellen, ist daher nicht nur unsachgemäß, sondern sie verrät neben dem fahrlässigen Umgang mit Argumenten auch ein gewisses Potenzial an Menschenverachtung.

Laut Statistik sind Männer, deren Lebenserwartung im Durchschnitt fünf Jahre kürzer ist als die von Frauen, sehr viel häufiger als diese in Berufen tätig, die Gefahren für Leib und Leben beinhalten: Sie riskieren ihre Unversehrtheit als Feuerwehrmann, Polizist, Seenotretter, Notarzt im Ausland oder als Einsatzkraft in der Bergwelt. Trägt dieser gewohnte Anblick vielleicht zu der Auffassung bei, es sei nur folgerichtig, wenn Männer auch an der Front ihr Leben für die Gesellschaft aufs Spiel setzen?


Wenn man mal von dem offenbar unbeirrbaren Glauben an Dinge wie einen Gender-Pay-Gap absieht, der wenig mit der Wirklichkeit zu tun hat, hätte dieser Artikel auch von einem Männerrechtler stammen können.



2. "Die Zeit" porträtiert zwei ukrainische Männer, die vor dem Wehrdienst geflohen sind. Bei Interesse am Thema ist der Artikel in Gänze lesenswert. Unter anderem erfährt man darin einen sonst wenig genannten Grund, warum der CDU-Politiker ukrainische Männer unbedingt an die Front zurückschicken will: "Im Falle eines militärischen Angriffs auf Deutschland, ermittelte damals das Institut YouGov, wäre nur jeder zehnte Befragte bereit, sein Land zu verteidigen. Jeder vierte dagegen würde fliehen." Was die ukrainischen Männer tun, habe insofern auch eine "Signalwirkung".



3. Die israelische Tageszeitung Haáretz porträtiert ebenfalls Männer, die den Kriegsdienst verweigert haben.

Ende letzten Monats unterzeichnete Vardi zusammen mit 41 anderen Reservisten, die seit dem 7. Oktober im Militärdienst sind, das erste Verweigerungsschreiben, das von Reservisten seit Beginn des Krieges im Gazastreifen veröffentlicht wurde.

(…) Für Vardi kam der Wendepunkt, als Israel sich für eine Bodenoperation in Rafah entschied, anstatt ein Abkommen zur Freilassung der Geiseln und zur Beendigung des Krieges zu unterzeichnen. "In dem Moment, in dem die Operation in Rafah begann, fühlte ich, dass es jenseits dessen war, was ich ethisch für richtig halten, dahinter stehen und rechtfertigen konnte."


Für einen anderen Soldaten kam der Wendepunkt, als die israelische Armee eines der Häuser der Zivilbevölkerung niederbrannte:

Über die Frage, wie er mit den zu erwartenden Sanktionen bei einer Dienstverweigerung umgehen würde, hat er sich keine Gedanken gemacht. "Als ich glaubte, in der Armee sein zu müssen, war ich dort und bin Risiken eingegangen", erklärt er. "Hier riskiere ich also nicht mein Leben, sondern eher meinen sozialen Status, und dieses Risiko ist es wert, um Menschenleben zu schonen und das zu tun, woran ich glaube."


Ein dritter Soldat berichtet:

Vom Hauptquartier der Brigade aus verfolgte er in Echtzeit die Filme von Drohnen, die auch die Bombardierungen der israelischen Luftwaffe im Gazastreifen dokumentierten. "Es ist weit weg von dir und man hat das Gefühl, dass es nicht real ist", sagt er. "Man sieht, wie sie Fahrzeuge, Gebäude und Menschen abschießen. Und jedes Mal, wenn ein Gebäude fällt, sagen alle: 'Wow!' Viele Menschen, auch ich, haben die Erfahrung gemacht: 'Wow, das ist verrückt', und andere sagen: 'Wir zeigen es ihnen, wir machen sie fertig, wir rächen uns.' Das sind die Schwingungen, die man im Kriegsraum hört."

Er sagt, es habe ein oder zwei Wochen gedauert, bis er begriffen habe, dass "jedes Mal, wenn man es sieht, es ein Gebäude ist, das einstürzt. Wenn Menschen darin waren, dann sind sie tot. Und selbst wenn keine Menschen darin waren, ist alles, was dort war - Fernseher, Erinnerungen, Bilder, Kleidung - weg. Es sind Hochhäuser. In der Einsatzzentrale weiß man, wie hoch die Evakuierungsstufe ist."

Er merkt an: "Sie sagen zum Beispiel immer, dass 50 Prozent des Gebiets evakuiert wurden. Ich erinnere mich an einen Tag, an dem ich hörte '50 Prozent wurden aus dem Norden evakuiert'. Am selben Tag sah ich, wie ein Gebäude in dem Gebiet einstürzte, und ich dachte mir: '50 Prozent wurden aus dem Gebiet evakuiert, aber 50 Prozent sind immer noch dort.' Gleichzeitig gibt es auch im südlichen Gazastreifen Bombenangriffe, und wir wissen, dass niemand von dort evakuiert wurde. Im Gegenteil, alle sind dorthin geflohen."

(…) Ofer Ziv sagt, er sei verwirrt gewesen, als er die Bombardierungen der Luftwaffe vom Hauptquartier aus beobachtete. "Am Anfang ist es sehr schwer zu sagen, was gerechtfertigt ist und was nicht", sagt er. "Aus der Ferne ist es einfach zu sagen: 'So ist das im Krieg, Menschen werden getötet.' Aber im Krieg werden nicht 30.000 Menschen getötet, von denen die meisten unter den Trümmern begraben werden, wenn sie aus der Luft bombardiert werden. Man hat das Gefühl, dass wahllos geschossen wird."

(…) A., ein 26-jähriger Reservist des militärischen Nachrichtendienstes, der den Brief ebenfalls unterzeichnet hat und nicht namentlich genannt werden möchte, beschreibt ähnliche Gefühle. Er meldete sich Anfang Oktober freiwillig zum Reservedienst und diente etwa zweieinhalb Monate lang. Da er für die Suche nach Attentatszielen zuständig war, nahm er an tödlichen Aktivitäten teil. Mit der Zeit wurde ihm klar, dass er sich an Handlungen beteiligte, die sein Gewissen verletzten.

"Am Anfang gab es ein Gefühl der Mobilisierung", sagt er. "Sie geben dir eine Liste mit fünf oder sechs Personen, die wichtig genug sind, und wenn wir sie erwischen, schaden wir den Fähigkeiten der Hamas. Man kann über diese Strategie streiten, aber so ist sie nun einmal. Langsam aber sicher merkt man, dass man nicht in der Lage ist, eine bestimmte wichtige Person zu treffen, und beginnt, nach anderen Zielen zu suchen, von denen noch nie jemand etwas gehört hat, und plötzlich sagt man sich, dass sie auch wichtig sind."

Er sagt: "Sie rechtfertigen es mit hundert Gründen - 'Vielleicht schreckt sie das ab, vielleicht dies, vielleicht das' - und fangen an, diese Person zu jagen, als wäre sie das wichtigste Ziel der Welt, und am Ende, wenn man sie in die Luft jagt, sagt man: 'Wir haben kein Problem damit, dass er jetzt mit der ganzen Familie im Haus ist', obwohl es keinen Hinweis darauf gibt, dass die Tötung dieser Person wirklich eine militärische Begründung hat. Ich hatte das Gefühl, dass das, was ich tue, nutzlos ist. Wir jagen nur Köpfen hinterher, um irgendeine Art von Erfolg zu demonstrieren, ohne jegliche Strategie und Richtung."

(…) Etwa einen Monat nach dem 7. Oktober, sagt A., war diese Politik sehr freizügig. Das Haus wurde bombardiert. Nach dem Angriff stellte sich heraus, dass die Zielperson draußen war und überlebte, aber zwei Frauen, die sich dort aufhielten, wurden getötet und mehrere andere Personen verletzt. "Man hat das Gefühl, dass man etwas tut, ohne dass es militärisch begründet ist, mit dem Risiko, Menschen, die zweifellos unschuldig sind, sehr schweren Schaden zuzufügen, nur weil man eine Leistung demonstrieren muss. (…) Was dort gemacht wird, ist ein Verbrechen, auch weil es sinnlos ist, und es schadet meiner persönlichen Zukunft als Bürger dieses Landes."


Diese Männer, die sich der scheinbaren Logik des Tötens widersetzen, haben meinen höchsten Respekt.



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