Dienstag, Mai 01, 2018

Erste Journalistin beschäftigt sich ernsthaft mit "Incels"

Ich hatte ja gestern den Artikel "Was sollten wir mit den gefährlichen Incels tun? Vielleicht ihnen helfen" veröffentlicht und für heute einen weiteren Artikel angekündigt, der aus dem allgemeinen Verdammungsjournalismus ausbricht. Er stammt von der New Yorker Autorin Mandy Stadtmiller und ist unter der auf einen Rolling-Stones-Hit anspielenden Überschrift "Sympathy for the Incel" auf der politisch linksliberal stehenden Website "The Daily Beast" erschienen. Schon die erste Zeile bietet einen für die "Qualitätsjournalisten" der Gegenwart völlig neuen Zugang:

If you want to know why young men are broken, ask them.


Was bezeichnenderweise in Journalistenkreisen kaum jemand tut. Auch die Autoren des gestern in der "Welt" veröffentlichten Artikels lassen lieber Außenstehende ihre Phantasien über solche Männer abspulen, statt zu "zerbrochenen" Männern selbst Kontakt aufzunehmen. Da ist sie wieder, die riesige geschlechtsbezogene Kluft in Sachen Empathie.

Mandy Stadtmiller jedenfalls hat einen solchen Incel, den 19jährigen Jack Peterson, befragt und ihn porträtiert – und zwar ohne auf das Niveau von "Guckt mal, der Freak!" zu sinken. Stadtmiller berichtet:

Der in den Vororten von Chicago geborene "Kalerthon Demetro" (Nachname seiner Mutter) ist ein Schulabbrecher, der bei seiner alleinerziehenden Mutter lebt und dessen Vater die Familie verließ, als sein Sohn zwei Jahre alt war. Petersons erste Reaktion auf den Horror in Toronto war es, einen Podcast aufzunehmen, der Gewalt und Frauenfeindlichkeit ausdrücklich verurteilt und der unterstreicht, dass dies für die Mehrheit der Mitglieder seiner Online-Community nicht ihre Realität ist. Für ihn und viele wie ihn, sagt er, ist die Incel-Gemeinschaft ein Mittel, sich gegenseitig in einer Welt zu unterstützen, in der es sich manchmal so anfühlt, als gäbe es sonst niemanden mehr.

Wenn man dem Teenager zuhört, wirkt er nicht psychopathisch. Er scheint Psychopathie auch nicht zu unterstützen. Im Gegenteil, er wirkt schüchtern und ungeschickt und einsam und wütend. Er lacht, wenn andere Incels dunkle Witze über Killer machen, aber er macht sie nicht selbst. Er versteht es. Sie lassen Dampf ab.

(...) Wenn ich mit Peterson am Telefon spreche (....), ist es erstaunlich, was für einen Unterschied es macht, wenn ich mir anhöre, was er über die Realität der Incel-Kultur zu sagen hat und wie er die Medien sieht, die deren Mitglieder darstellen.

Seiner Ansicht nach ist die Realität der geschätzte Zehntausende von Mitgliedern umfassenden Incel-Community – so verachtenswert und moralisch unergründlich ihr psychopathischer Rand auch ist – weitaus komplexer.


Es scheint also dieselbe Situation wie bei uns Männerrechtlern zu bestehen. Auch wir sind extrem heterogen, und auch, was uns angeht, interessieren sich "Qualitätsjournalisten" ausschließlich für den "lunatic fringe", wobei ein Dutzend Leute Zigtausende andere Männerrechtler repräsentieren sollen.

Peterson verglich die verzerrende Darstellung von Incels mit der fremdenfeindlichen Sicht, die eine Minderheit von radikalisierten islamischen Selbstmordattentätern benutzt, um die große Mehrheit der Muslime zu verdammen. Stattdessen, sagte er, gibt es eine abscheuliche Minderheit, die die Vision der Gemeinschaft verzerrt - aber das ist nicht seine Vision für diese Gruppe.


Stadtmiller beschäftigt sich nun mit Petersons Lebensgeschichte:

Um die dritte oder vierte Klasse herum begannen sich die Dinge zu ändern. Es war das erste Mal, dass sich die Mädchen über ihn lustig machten und sagten, er sei gruselig und ekelhaft und seltsam.

"Ich habe es nicht verstanden", sagt er. "Mir wurde gesagt, ich solle mich entweder wie ein Mann verhalten, oder die Mädchen könnten nichts falsch machen. Und doch wurde mir ständig gesagt, dass Männer die Grausamen, Bösen sind. Nichts davon ergab für mich einen Sinn. Ich war nur extrem schüchtern. Ich sprach nicht mit ihnen, aber die Sticheleien waren unerbittlich und brachten mich dazu, mich umbringen zu wollen."

In der siebten Klasse wechselte Peterson innerhalb eines Jahres drei verschiedene Mittelschulen, da ihm das Mobbing überallhin folgte. Als er die High School erreichte, sagte er, begann eine junge Frau, Fotos von ihm zu machen und sie mit anderen Mädchen zu teilen, die ihm offen ins Gesicht lachten, wie hässlich er war und warum sie ihn nicht in ihrer Nähe haben wollten. Er beendete sein Erstsemester an der Chicago Academy for the Arts nicht, sondern schied nach dem ersten Semester aus. Seine Mutter wusste nie, wie viel Mobbing er erlebte.

"Ich habe mich nur geschämt", sagt er. "Wie reden Sie über sowas?"


Ganz einfach: Mann tut es nicht. Weil dieselben Leute, die fordern, Männer sollten ihre "toxische Männlichkeit" ablegen und über ihre Gefühle sprechen, sich über "Male Tears" beömmeln und spöttisch ein Foto der tränenverzerrten Grimasse James van der Beeks zeigen, um zu zeigen, wie lustig "jammernde" Männer sind. Das Massenmobbing von "Qualitätsjournalisten" gegen den "Zeit"-Redakteur Jens Jessen, sobald er über Verletzungen zu sprechen begann, hat ja nun auch jeder mitbekommen.

Die Mädchen, die als 17jährige ihre Mitschüler mobbten, sowie ihre demütig ergebene männliche Gefolgschaft sind groß geworden und schreiben jetzt für "taz", Spiegel-Online & Co. Vermutlich verwerten nicht wenige von ihnen ihre alten Gehässigkeiten von damals einfach neu.

Eine der wenigen Möglichkeiten, sich mit anderen Menschen über sein Leiden auszutauschen, boten Peterson Internet-Communities wie die der Incels. Zum ersten Mal hatte er das Gefühl, auf dieser Welt nicht mehr allein zu sein.

Stadtmiller kommt nun auf Angela Nagle's Buch "Kill All Normies" zu sprechen, das die Incel-Kultur und ihre Rebellion gegen die "linksliberale Performance-Politik und die sie oft begleitende Online-Massenhysterie" Stadtmiller zufolge brillant darstelle. Auch Peterson empfindet die Doppelmoral als bizarr, einerseits so zu tun, als sei man ein großer Vorkämpfer für die Menschenrechte, während man es andererseits zum Brüllen komisch findet, wenn Jungen und junge Männer fertig gemacht und verspottet werden.

"Als ich die High School abbrach, war der einzige Ort, an dem ich mich für eine Weile gut fühlte, online", erzählt Peterson mir. "Als ich die Incel-Kultur auf Reddit entdeckte, fühlte es sich an wie: Okay, ich bin nicht verrückt. Ich las all die Geschichten der anderen Jungs darüber, wie Mädchen ihnen erzählten, dass sie abstoßend seien. Ich habe mich nie mit der Frauenfeindlichkeit identifiziert, aber ich habe mich mit der Wut über die Heuchelei, wie unantastbar Frauen in der Gesellschaft sind, identifiziert. Egal was eine Frau getan hat, ständig hieß es: O ja, das ist weibliches Empowerment. Aber wenn man keine Freunde hat und ständig von Frauen schikaniert und gedemütigt wird und sowohl 'ein Mann sein' als auch seiner Männlichkeit abschwören soll .... dann ist das einzige helle Licht, das man sieht, diese Gemeinschaft".

Als er 16 Jahre alt war, traf Peterson schließlich eine junge Frau - vier Jahre älter als er - mit der er seit er zwölf war, online gechattet hatte. Sie wusste eine Zeit lang nicht, wie er aussah, und als er ihr endlich sein Bild schickte, sagte sie ihm, dass sie ihn nicht attraktiv fand. Er verlor seine Jungfräulichkeit an sie, woraufhin sie, wie er berichtet, seine Penisgröße verspottete und ihn auslachte. Später schickte sie ihm Kopien von Nachrichten, die sie an andere Männer geschickt hatte, mit denen sie ihn betrog, wo sie die Sexualakte, die sie mit diesen Männern erleben wollte, ausdrücklich beschrieb. Ich habe Beweise für all das gesehen.

(...) Laut Peterson löste sich die Beziehung schließlich auf, als diese Frau anfing, ihn zu würgen und mit ihrem Auto zu jagen. Er lief zu einem nahegelegenen Laden, um Hilfe zu holen, und besitzt tatsächlich die Aufnahmen der Sicherheitskamera, die ihn zeigen, wie er gegen das Glasfenster schlägt. Die Polizei kam, und um das Mädchen zu decken, sagte er, er sei selbstmordgefährdet. Er verbrachte deswegen drei Tage in einer Nervenheilanstalt.


Peterson bezeichnet sich nach diesem Vorfall als "black pilled". Diser Begriff bedeutet, dass jemand zu der "Einsicht" gelangt ist, dass Frauen genetisch minderwertige Männer ohnehin verachten – und wenn man sowieso keine Chance hat, wozu soll man sich dann noch irgendwelche Mühe geben? Diese neue Einstellung betrachten viele der betroffenen Männer als befreiend.

Nachdem Stadtmiller ironischerweise Männerrechtler selbst en passant auf Extremisten reduziert, berichtet sie über das Buch "Hate" der männerfreundlichen, liberalen Feministin Nadine Strossen. ("In den Ländern, in denen Gesetze gegen Hate Speech erlassen wurden, ist die Unterstützung für rassistische und fremdenfeindliche Politiker gestiegen. In Europa wurde das Konzept der Hate Speech zur Unterdrückung von abweichenden Meinungen unter den Entrechteten eingesetzt.") Ein weiteres aktuelles Buch, Speak Freely: Why Universities Must Defend Free Speech" schlägt in dieselbe Kerbe. Dem unbenommen gerät auch Stadtmiller bei ihrer Recherche zu dem Eindruck, dass in der Incel-Community Frauenhass und Ressentiments blühen, wofür sie einige Beispiele präsentiert. Peterson indes erklärt entsprechende Statements als "sarkastische Witze", was Stadtmiller kritisch hinterfragt, bevor sie mit folgender Passage fortfährt:

Ist es ein Wunder, dass diese Jungs eine Vaterfigur brauchen?

Der kanadische Psychologe Jordan Peterson (keine Verwandtschaft mit Jack) ist bekannt dafür, in Interviews zu Tränen gerührt zu sein, wenn er die Krise der Entfremdung diskutiert, die er heute unter jungen Männern sieht, und die Notwendigkeit, ihnen Werkzeuge an die Hand zu geben, die sie erreichen.

(...) Der Psychologe William Pollack berichtet in der Dokumentation The Mask You Live In über den "Boy Code", der Männlichkeit von klein auf verzerrt: "Die Art und Weise, wie Jungen erzogen werden, lässt sie all ihre natürlichen, verletzlichen, empathischen Gefühle hinter einer Maske der Männlichkeit verbergen ... Wenn sie am meisten Schmerzen haben, können sie nicht um Hilfe bitten, weil es ihnen nicht erlaubt ist, denn dann würden sie kein richtiger Junge sein".

In der Tat, Jungen drücken Depressionen in einer völlig entgegengesetzten Weise aus als Mädchen. Sie spielen sich auf. "Aber die meisten Leute sehen es als Verhaltensstörung oder nur als unartiges Kind."

Nach dem Amoklauf an der Parkland High School im März traf sich einer der wichtigsten Aktivisten, die versuchen, junge Männer zu erreichen, bevor sie zu Mördern wurden, mit Präsident Donald Trump, um ihm seine Meinung zu sagen. "Jede einzelne dieser Schießereien wurde von jungen Männern begangen, die aus der Gesellschaft entkoppelt sind", sagte Darrell Scott, der Vater des ersten Schülers, der vor fast 20 Jahren an der Columbine High School ermordet wurde. Als Antwort darauf gründete er "Rachels Challenge", um mit Taten einzugreifen und nicht mit einem weiteren zahnlosen Spektakel der Verurteilung von Gewalt.

In einem Tweet-Rant, der während dieser Zeit von Martin Daubney, dem Herausgeber des englischen Männermagazins "Loaded", veröffentlicht wurde, artikulierte Daubney ein ähnlich aufrüttelndes Porträt der kollektiven Angst von jungen Männern, die sich gefühllos beiseite geworfen und als von Geburt an falsch gebrandmarkt fühlen, was nur dazu dient, ihr Gefühl der Viktimisierung noch weiter zu verstärken.

"Ich denke an einen bahnbrechenden TED-Talk von Warren Farrell, dem Autor von The Boy Crisis", schrieb Daubney. "Er schaut auf Amokläufe an der Schule und sagt: Jungs, die verletzt sind, verletzen uns ... Man sagt, die Jungs von heute fühlen sich als Teil eines großen Problems. Man könnte es als #ToxicMasculinity bezeichnen: die Vorstellung, dass alle Männer für die Handlungen einer Minderheit von geschädigten Personen verantwortlich sind. Das ist Identitätspolitik in ihrer zerstörerischsten Form. Weil wir in einer Welt leben, in der jede männliche Taktlosigkeit benutzt wird, um alle Männer anzugreifen. Ich sage: Viele Jungen schalten ab. Wir verlieren sie."


Nie war eine politische Bewegung für Jungen und Männer so ungemein wichtig wie heute.

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