Lesermail (SPIEGEL-Artikel von Takis Würger über "lebensgefährliche" Single-Männer)
Kevin Fuchs schreibt mir zu diesem Genderama-Blogbeitrag bzw. Takis Würgers SPIEGEL-Artikel, auf den er sich bezieht:
Den Spiegel-Artikel "Männlich, ledig, lebensgefährlich" betreffend muss ich sagen, dass ich mich nicht entsinnen kann, in einem "journalistischen" Heft je einen derart sinnleeren und von Aggressionen durchsetzten Artikel gelesen zu haben.
Takis Würger klaubt sich im Rosenbrock-Stil ein Konvolut aus den denkbar grausigsten Zitaten zusammen, die einzelne Incels verstreut über den ganzen Planeten von sich gegeben haben. Ein empirischer Überblick über die Thematik fehlt. Er erwähnt zwar in einem Satz die Untersuchungen des Psychologen Brian Gilmartin, hat sich damit inhaltlich aber nicht ansatzweise beschäftigt. Er verschweigt auch konsequent, dass es unter den Incels nicht gerade wenige Frauen gibt. Beide Aspekte - Gilmartin und weibliche Incels - würden das Grusel-Bild, das Würger von den Incel-Männern zeichnet, schließlich empfindlich stören.
Das besagte Konvolut resultiert dann in aneinandergereihten Zitaten, ohne tiefere Deutung. Dazwischen immer wieder Suggestivfragen, die letztendlich nur Rhetorik sind, also absichtlich unbeantwortet bleiben. Auffällig ist auch eine teilweise epische Sprache, die eine düstere Kulisse zeichnen soll. Man hat den Eindruck, dass man eher ein Stück Prosa und weniger einen journalistischen Text vor sich hat.
So wird der Eindruck vermittelt, männliche Incels seien zwangsläufig gestört, als ob "normale" Menschen niemals zu Incels werden könnten. Unterstrichen wird das durch eine Bebilderung, in der holzschnittartige Zeichnungen den Incel als ausgegrenzten Looser oder gefährlichen Aggro zeigen. Eines dieser Bilder illustriert sehr plastisch, wie der Autor sich den typischen Incel vorstellt: im stillen Kämmerchen mit anderen Incels vereint, gekrümmt mit verbissener Mimik und Tunnelblick in die Tatstauren eines Cumputers hämmernd - asozial, ausgegrenzt, freudlos, das Internet als einziges Kommunikationsmedium.
Interessanterweise erzählt uns all das absolut nichts über die Incels. Stattdessen erfahren wir ungefragt viel über den Urheber des Textes. Denn im Umkehrschluss könnte man meinen, dass ein rechter Mann nach der Denkart des Autors ab einem bestimmten Alter doch eine bestimmte Fülle an Eroberungen geleistet haben sollte. Eine männliche Jungfrau kann demnach nur ein pathologisches Neutrum sein, irgendwie unheimlich und latent gefährlich.
Die Antiquiertheit des dahinterstehenden Bildes von Männlichkeit, Weiblichkeit und Sexualität sticht geradezu ins Auge. Und man merkt auch an dieser Stelle, weshalb der Artikel bei Berücksichtigung weiblicher Incels und der bekannten Forschungslage in dieser Form nicht geschrieben werden hätte können.
Die Incels, die der Autor zitiert, lassen vielfach durchblicken, dass sie sich selbst als minderwertig - ich sage mal überspitzt: als evolutionären Abfall – empfinden. Es ist klar, dass hier tiefe psychische Probleme vorliegen. Aber um über ein solches Thema zu schreiben, bedürfte es einer gewissen Sensibilität und Empathiefähigkeit, die der Text gänzlich vermissen lässt. Stattdessen dominiert zwischen jeder Zeile ein verurteilender Duktus. Die Art, wie der Autor mit dem Thema umgeht, scheint die Weltsicht dieser Incels interessanterweise eher zu bestätigen. Indem er die Incels als eben solche kranke Gestalten wahrnimmt und darstellt, liefert er doch selbst den Beweis.
Es gibt nicht wenige Menschen, die auf dieses Thema ähnlich reagieren. Zumeist sind diese aber auf Verstandesebene durchaus fähig, sich in die Betroffenen einzufühlen und "sozialadäquates" Verhalten zu zeigen. Spricht man diese Leute auf eben dieser Verstandesebene an, erfolgt meist eine Korrektur, eine Relativierung nach der Art "so habe ich das nicht gemeint ...", "nein natürlich nicht alle ...", "das war jetzt nur ein extremes Beispiel ...", "klar kann man das nicht verallgemeinern".
Eine solche Korrektur kann man beim Autor ebenfalls beobachten. Gegen Ende des Textes lässt er uns halbherzig wissen, dass wohl zuerst der Amokläufer da sei und dann der Incel – dass also Jungfräulichkeit Männer nicht zu Amokläufern werden lässt sondern eher umgekehrt. Einen direkten Zusammenhang gebe es da wohl nicht – na Gott sei Dank. Allerdings schreibt er das, nachdem er lang und breit ein zur Gänze gegensätzliches Bild ausgebreitet hat.
Solche unschlüssigen Korrekturversuche erleben wir bei Menschen dann, wenn die Verstandesebene mit der primitiveren, unbewussten Ebene kollidiert. Der Verstand sagt: "Hat nichts mit Charakter zu tun, sind äußere Umstände oder Schüchternheit". Die primitive Ebene aber sagt: "Looser, Schwächling, Crap, Unfuckable". Solche Kollissionen führen unweigerlich zu inneren Konflikten: Trieb gegen Verstand. Um diesen Widerspruch unbemerkt zu lassen, bedarf es Invisibilisierungsmechanismen. Es könnte eine gängige Methode unserer Psyche sein, den inneren Konflikt zu externalisieren und alles auf ein äußeres Objekt abzuwälzen – in diesem Fall wäre der Incel das besagte Objekt. Dass ein solcher Vorgang mit Aggressionen einhergeht, liegt wohl in der Natur der Dinge.
Die archaische Vorstellung, dass ein von Frauen verschmähter Mann ganz selbstverständlich etwas Krankes, also zurecht Abgestoßenes sein muss, zeugt natürlich von Primitivität. Die aber hat ihren Ursprung nicht im Verstand, sondern rührt von genau den niederen Dingen, die uns lenken, ohne dass wir uns dessen bewusst wären.
Der Autor hat folglich keinen Text über Incels geschrieben. Stattdessen hat er uns – ganz ungewollt und unbemerkt – auf eine Reise durch sein eigenes Unterbewusstsein genommen. Wir wissen nun ganz genau, welche Kräfte ihn in seiner Sexualität antreiben. Insofern ist der Artikel eine ziemliche Verschwendung. Wir hätten uns für das Thema interessiert, nicht für das Innenleben von Takis Würger.
<< Home