Analyse: Die Wahrheit über die #Aufschrei-Kampagne – und wie die Medien sie verzerrten
Vor einigen Tagen wurde erstmals eine umfassende Analyse der Twitter-Kampagne zum Thema Sexismus vorgelegt. Deren Ergebnisse haben wenig mit dem Eindruck zu tun, den viele Medien zu erwecken versuchten (Tenor: "90.000 Frauen berichten über Erlebnisse mit sexueller Belästigung"): Stattdessen zeigte sich folgendes:
1,5% der Tweets beziehen auf persönliche Erfahrungen mit Alltags-Sexismus
32,5% der Tweets sind als "anti-sexistisch" einzuordnen und beziehen sich zum Großteil auf Links zu aktuellen Zeitungsartikeln
27% der Tweets sind als "anti-feministisch" zu deklarieren und enthalten persönliche Meinungen zur Debatte oder anzügliche Kommentare
(...) Wie die deutschen Medien sich insgesamt in Superlativen ergehen können, bleibt für uns ein mittelgroßes bis nicht-lösbares Rätsel. Alle 90.000 Tweets im Sinne des #aufschreis zu werten, ist unseres Erachtens ein grober "Anfängerfehler". Das ist genauso, als würde man bei einem DFB-Pokal-Spiel "FC-Bayern gegen einen 3. Liga-Verein" im Stadion des FC Bayern ALLE Zuschauer als Fans des Drittliga-Vereins werten.
(...) Man kann ferner festhalten, dass durch den #aufschrei auch eine erheblichen Anzahl von Anti-Feministen "aktiviert" wurde. Aufgrund der Tatsache, dass ihre Meinung nicht oder nur in sehr geringem Umfang in Zeitungsartikeln repräsentiert wurde, verwiesen sie auf eigene Blogs, selbst erstellte zynische Beiträge oder Links zu Fotos mit leicht bekleideten Frauen. Der #aufschrei hat also nicht nur zur Belebung der Anti-Seximsus-Debatte, sondern auch zur Belebung der Anti-Feminismus-Diskussion beigetragen. (...) Während nur 1,5% der Twitter-Nutzer im ursprünglichen Sinne antworteten, aktivierte die Diskussion ca. 20x so viele Anti-Feministen.
(...) Etwas überrascht waren wir, dass alle von uns im Zuge des #aufschreis verfolgten Medien, Aussagen anscheinend ungeprüft übernommen haben. Hätte man sich auch nur ansatzweise mit den Inhalten der #aufschrei-Tweets auseinandergesetzt, hätte man aufgrund der vorliegenden Daten und dem geringen Prozentsatz an Tweets, die wirklich persönliche Erfahrungen beschreiben, keine "Rekordaussage" tätigen dürfen. Schon gar nicht sollte man von einem Gewinn für die Anti-Sexismus-Bewegung, sondern bestenfalls von einer "Aktivierung von Personen aus beiden Lagern in gleichem Umfang" sprechen.
Die zitierte Analyse Marko Willneckers leidet aus meiner Sicht allerdings ein wenig darunter, dass sie Anti-Sexismus und Anti-Feminismus als zwei gegensätzliche Lager schildert, was zu undifferenziert ist: Viele Anti-Feministen beispielsweise in der Männerbewegung sind gerade deshalb Anti-Feministen, weil sie anti-sexistisch orientiert sind und zumindest der radikale Feminismus massiv sexistische Aspekte aufweist. Nicht das anti-sexistische, sondern das feministische Lager war in der #Aufschrei-Kampagne Willneckers Analyse zufolge sehr viel schwächer vertreten, als zahlreiche Medien glauben machen wollten. Zum wiederholten Male versuchten Journalisten uns einen Jetzt-aber-wirklich-neuen-Feminismus zu verkaufen, und wieder einmal wurden junge Frauen, die wenig Konkretes vorweisen konnten, zu angeblichen neuen feministischen Ikonen hochstilisiert. Diese Frauen dürften bereits in wenigen Jahren etwa so bedeutend für die Geschlechterdebatte sein wie frühere Formen des von den Medien aufgeblasenen "neuen Feminismus", also etwa Thea Dorns "F-Klassen-Feminismus", wovon kein Mensch mehr etwas hört, oder den "Alpha-Mädchen". (Wie hießen die drei Autorinnen des damals zur Spiegel-Titelstory avancierten Buches noch gleich? Wie haben sie in den letzten Jahren die Geschlechterpolitik vorangebracht?)
Während es für unsere Medien ausreicht, eine Feministin zu hypen, sobald sie nichts weiter getan hat, als auf Twitter einen gemeinsamen Hashtag für bestimmte Beiträge vorzuschlagen, wird die von großem Fleiß und ebensolcher Kompetenz geprägte Arbeit, die etwa Gruppen wie MANNdat mit ihren geschlechterpolitischen Analysen leisten, von denselben Medien weitgehend ignoriert. Es ist höchste Zeit, dass sich der deutsche Journalismus einmal mit dem Sexismus in der eigenen Arbeit ernsthaft auseinandersetzt.
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