Walter Hollstein: “Die deutsche Geschlechterpolitik ist auf dem männlichen Auge blind”
Von Walter Hollstein, dem Doyen der gegenwärtigen Männerforschung, gibt es im heutigen "Tagesspiegel" einen Artikel, der, wie es im MANNdat-Forum treffend heißt, „ebensogut eine Presseerklärung von MANNdat sein könnte“. (Heißt das eigentlich, wir sind schon nicht mehr radikal und vordenkerisch genug?)
Hollsteins Intro: „Die Dinge scheinen klar: Männer besetzen noch immer die wichtigsten Positionen in Wirtschaft, Politik, Kirche und Kultur; Männer verdienen im gesellschaftlichen Durchschnitt nach wie vor mehr als Frauen. Also müssen sie das mächtige Geschlecht sein. In seinem Abschiedsbrief notiert der 18-jährige Amokläufer von Emsdetten: `Das Einzigste , was ich intensiv in der Schule beigebracht bekommen habe, war, dass ich ein Verlierer bin.´ Sind die Dinge vielleicht doch nicht so klar?“
Den vollständigen, unkastrierten Text kann man hier nachlesen. Denn in der Veröffentlichung des „Tagesspiegels“ fehlen einige Passagen des Originals, die Walter Hollstein als „wichtig“ bezeichnet. Von kleineren redaktionellen Eingriffen abgesehen, wurden die folgenden Absätze vom „Tagesspiegel“ weggekürzt:
--- Die Bildungsforscherin Heike Diefenbach von der Universität München weist darauf hin, dass Jungen heute die Verlierer des deutschen Schulsystems sind: „Weil Jungen viel häufiger als Mädchen einen niedrigwertigen oder keinen Schulabschluss erwerben, haben sie deutlich schlechtere Chancen auf eine berufliche Bildung, deutliche höhere Chancen, eine Erwerbstätigkeit im Niedriglohnsektor und somit unsichere Jobs aufzunehmen, und damit eine höhere Wahrscheinlichkeit, arbeitslos zu werden. Arbeitslosigkeit wiederum führt früher oder später in eine `Fördermaßnahme´ des Arbeitsamts, in die Sozialhilfe oder in die Nichtsesshaftigkeit“. ---
--- (Auch hier ist wiederum interessant, wie mit diesem Problem öffentlich umgegangen wird. Es ist ja in den west- und nordeuropäischen Staaten üblich geworden, Sexualität bis in die intimsten Details auszuleuchten; über die dramatisch gestiegene Impotenz bei Männern wird hingegen geschwiegen). ---
--- Die französische Feministin Elisabeth Badinter konstatiert in ihrem jüngsten Buch „Die Wiederentdeckung der Gleichheit“, dass sich die Männer inzwischen „jeder Eigenheit beraubt“ fühlen und sich „nur noch als Adressaten widersprüchlicher Erwartungen“ von Frauenseite erleben. Die Männer „haben oft den unangenehmen Eindruck, dass ihre Identität gegenüber den Frauen ihre klaren Konturen verliert. Die Frauen zögern nämlich immer weniger, sich wie die Männer von früher zu verhalten, ja sogar ihnen ihr Gesetz aufzuzwingen“. ---
--- In diesem Kontext reicht es auch nicht aus, Erziehungszeiten für Männer finanziell besser zu alimentieren, wenn die traditionelle Männerrolle unangetastet bleibt. ---
--- Heike Diefenbach hat den „Zusammenhang zwischen dem Ausmaß der Nachteile von Jungen und dem Anteil von Grundschullehrerinnen“ empirisch belegt: „Je höher der Anteil von Grundschullehrerinnen, desto größer die Nachteile von Jungen“. Nur konsequent sind Forderungen nach mehr männlichem Erziehungspersonal in Vorschulen und Schulen. Pädagogen haben darauf auch immer wieder hingewiesen; ihre durchaus dringlichen Appelle sind von der deutschen Geschlechterpolitik aber nie aufgenommen worden. ---
--- Männer und vor allem Jungen fühlen sich gegenwärtig allein gelassen. Mit diesem Tatbestand kann verschieden umgegangen werden. Männerrechtler, wie sie sich beispielsweise zuhauf bei „Manndat.de“ im Internet äußern, haben für den Dezember die Gründung der ersten deutschen „Männerpartei“ angekündigt. Überlegt werden könnte auch, inwiefern das Antidiskriminierungsgesetz der Bundesregierung gegen sie selbst angewandt werden kann; denn das Bundesministerium für Familien, Frauen, Senioren und Jugend spart Männer und Jungen aus allen politischen Bemühungen aus und diskriminiert damit ein ganzes Geschlecht. ---
--- Dass Männer in der offiziellen Geschlechterpolitik bisher fast nur als Objekt der Kritik ins Visier geraten sind, ist vielfach problematisch. Grundsätzlich läuft es der demokratischen Verfasstheit eines Staatswesens zuwider, wenn ein ganzes Geschlecht aus politischen Bemühungen ausgespart bleibt. Überdies hat sich diese Praxis auch als kontraproduktiv erweisen, weil Frauenpolitik ohne Männerpolitik nicht wirklich vorankommen kann. Wenn Männer kein Terrain räumen und keine Machtaufgaben mit Frauen teilen, wenn Männer sich nicht auch die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zum eigenen Thema machen, dann können sich Frauen nicht wirklich befreien. ---
Warum wohl gerade diese Passagen herausgenommen wurden?
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