Birgitta vom Lehn: "Ich finde es infam, von Jungen eine Verweiblichung zu fordern"
Am 1. Juli hatte ich in diesem Blog auf einen gelungenen "Welt"-Artikel Birgitta vom Lehns verwiesen: Die Jungs sind die Verlierer des Bildungssystems.
Darauf reagierte, ebenfalls auf den Seiten der "Welt", der pensionierte Lehrer Rainer Werner mit einem Beitrag aus der sattsam bekannten Frauen-sind-bessere-Menschen-Schule: Erfolgsrezept Mädchen.
Birgitta vom Lehn antwortet Rainer Werner nun mit einem offenen Brief hier auf Genderama:
Sehr geehrter Herr Werner,
mit großem Interesse habe ich Ihren Mädchen-Artikel als Antwort auf meinen Jungs-Artikel in der heutigen WELT gelesen. Gut, dass diese Debatte endlich in Gang kommt!
Wie Sie sich denken können, kann ich einige Ausführungen in Ihrem Artikel jedoch nicht unwidersprochen lassen. Der Reihe nach:
1. Sie unterstellen mir, dass ich "stillschweigend unterstelle, dass Frauen in der Erzieher- und Lehrerrolle ihresgleichen gegenüber den Jungen bevorzugen". Das stimmt so nicht. Ich unterstelle keineswegs, dass Frauen Mädchen bevorzugen. Das habe ich auch mit keinem Wort so in meinem Artikel geschrieben und unterstelle es auch nicht "stillschweigend", schließlich gibt es auch Männer, die Mädchen bevorzugen.
Eine "Bevorzugung" impliziert nach meinem Verständnis eine bewusste, willentliche Handlung. Was aber in Kitas und Schulen unwillkürlich (!) passiert, ist aufgrund der Überrepräsentanz weiblicher Lehrkräfte die Etablierung einer weiblichen Lernkultur, die das brave Verhalten der Mädchen (ehrgeizig, lernwillig, hausaufgabenfreudig, ordentlich – Sie beschreiben es ja selbst) kultiviert und zur Norm erhebt und das der Jungs (wild, unangepasst, bewegungshungrig, "hängen an elektronischen Geräten") geißelt. In Kitas ist es der morgendliche Stuhlkreis, den Mädchen mögen, Jungs aber am liebsten meiden würden, wenn sie denn dürften.
Diese weibliche Lernkultur wird geprägt, unterstützt und gefördert durch das überwiegend weibliche Personal. Wie soll es auch anders sein? Frauen können sich ebenso wenig verstellen wie Männer. Nicht umsonst diskutieren wir ja über die Frauenquote in männerdominierten Betrieben. Da heißt das Argument: Wir brauchen auch deshalb mehr Frauen, um dem männlich dominierten Klima entgegenzuwirken. Und: Frauen an der Spitze ziehen Frauen nach sich. Gilt dieses Prinzip nicht auch für die Schule?
2. Sie bezweifeln die von mir genannten Daten und setzen "standardisierte Tests" in Anführungszeichen, degradieren dadurch also Untersuchungen der Vodafone-Stiftung und des Aktionsrats Bildung. Nun kann man natürlich immer noch mehr Daten und Studien fordern, um angenehmere Ergebnisse zu bekommen, und die werden auch kommen, aber diese bereits recht gründlich evaluierten "statistischen Werte" durch den Blick eines einzelnen Lehrers (in diesem Fall Sie selbst) entkräften zu wollen ("Aufschluss kann nur ein Blick in den Unterricht selbst geben."), erscheint mir doch recht gewagt. Aber egal: Ihr subjektiver Blick, den Sie dann beschreiben, bestätigt ja auch noch die Kritiker! Ihre Worte schildern, wie es ist: Mädchen sind aufgrund ihres angenehmen Verhaltens gern gesehene Gäste im Klassenzimmer, Jungs stören eher. Als einzige (pädagogische) Lösung des Problems den Jungen zu raten, sich bei den Mädchen abzugucken, wie man(n)’s macht, finde ich schon sehr erstaunlich.
3. Sie schreiben, die Zukunft sei weiblich und verweisen auf den wachsenden Dienstleistungssektor. Das ist zwar richtig, aber nur halb, denn auch dieser Sektor kann nur wachsen und stark sein, wenn wir auch in Zukunft noch Produkte haben, die wir verkaufen können. Und diese Produkte werden in der Regel immer noch vorwiegend von Männern erfunden und hergestellt – vielleicht von denselben, die als kleine Jungs "an den elektronischen Geräten hängen", wie Sie abwertend schreiben? Schauen Sie in die Hörsäle technischer Universitäten und zählen Sie nach, wie viele kommunikationsstarke, aber leider technikabstinente Frauen dort sitzen. Sollte man am Ende Mädchen auch raten, sich was von Jungs abzugucken?
4. Sie bewerten Theatergruppen und Schulchor kreativer als Sport. Meinen Sie nicht, dass man beim Orientierungslauf, Tischtennis, Handball oder im Tennis auch eine gehörige Portion Kreativität braucht, um zu gewinnen? Mit Kreativität kann ja nicht nur eine künstlerisch-handwerkliche Fähigkeit gemeint sein. Kreativ ist auch, wer sich Strategien überlegt, ein Spiel zu gewinnen und den Gegner mit fairen Mitteln auszuschalten. Jungen wählen eher wettbewerbsorientierte Aktivitäten, das stimmt, aber weniger kreativ sind sie deshalb ganz sicher nicht. In der Regel brauchen Jungs vor allem mehr Zeit, sich zu entwickeln. Mädchen sind schneller und auch besser im Rezipieren. Jungs sind langsamer in der Entwicklung – und daher oft unbequem und unpassend für die genormte Schullaufbahn. Diese Umwege scheinen aber – betrachtet man sich die späteren Berufswege im Einzelnen – diesen auch zu helfen. Ob die Mädchen sich auch da was von den Jungs abgucken können? Ein bisschen mehr Lässigkeit und Entspannung täte auch den ehrgeizigen Mädchen gut.
5. "Die junge Männer werden nur erfolgreich sein, wenn sie weiblicher werden." Der Satz mag für die Schule und deren eingeforderte Leistungen in Form von Noten gelten, für das Leben gilt er jedenfalls nicht. Ich finde es infam, von Jungen eine Verweiblichung zu fordern – ebenso wie ich es nicht wünschenswert erachte, Mädchen eine Vermännlichung aufzudrängen.
Mit freundlichen Grüßen
Birgitta vom Lehn
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