Lesermail (Buchkritik 2)
Heute bin ich wegen einem Interview unterwegs und komme deshalb nicht zum Recherchieren neuer Artikel zur Jungenkrise. Damit ihr trotzdem was zum Lesen habt, folgt hier ein sehr ausführlicher Leserbrief eines MANNdat-Mitarbeiters, der sich kritisch mit "Rettet unsere Söhne" auseinandersetzt.
Lieber Arne,
ich will mal versuchen, konstruktive Anmerkungen zu Deinem Buch zunächst auf diese Weise zu machen. Man kann dann sehen, was davon schließlich ins interne MANNdat-Forum gehört, was vielleicht Baustein zu einer Rezension sein kann. Ich habe schon geschrieben, daß ich das Buch für sehr gelungen halte. Eine gerechte Rezension müßte daher völlig anders gewichtet sein als das, was ich jetzt hier zur Diskussion stellen möchte und was sich hauptsächlich mit dem aufhält, das mir bei der Lektüre Bauchschmerzen bereitet.
Als Aufhänger wähle ich den vorletzten Absatz auf der S. 54: „Wenn es darum geht, bücherweise Wissen in sich hineinzustopfen, [...], um es dann bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit begeistert abzuspulen – bei welchem Geschlecht erleben Sie diese Neigung mehr? Bei Jungen oder bei Mädchen?“ Dazu die Fußnote: „’Während Mädchen bessere Noten in der Schule bekommen, zeigen Jungen durchgehend, daß sie mehr Fakten wiedergeben können’“ Das ist ein interessanter Ansatz! Über den „Wissensdurst von Jungen“ (S. 55) hätte ich daher gerne mehr erfahren, und zwar vor allem verknüpft mit der Frage:
Welchen Stellenwert hat Wissen (von Fakten) heute in der Schule noch?
Ich glaube, hier wären wir in der Ursachenforschung auf dem richtigen Wege. Doch wird nun diese „Begabung“ der Jungs leider nicht weiter untersucht und dann in der folgenden Ursachenforschung vornehmlich auf andere Aspekte eingegangen.
Wissen aber wird in der Schule schon lange nicht mehr wirklich geschätzt. Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, hat ganz zurecht bemängelt: "Ein [...] Irrweg war und ist es, daß in vielen Bundesländern seit mehr als drei Jahrzehnten eine Aversion gegen konkretes Wissen und gegen jeden Fächerkanon gepflegt wird." (J. Kraus: Der PISA Schwindel, Wien 2005, S. 216) Schulbildung, das ist - oder soll sein – reformpädagogisch „Kompetenzenerwerb“, soll, in der Grundschule etwa, „Methodenkompetenzen“ und „Primärstrategien“ vermitteln und dergleichen mehr. Über nichts rümpfen Pädagogen inzwischen so sehr die Nase als über Faktenkenntnisse (etwa historischer Daten im Geschichtsunterricht). „Moderner“ Unterricht soll anders sein: „Wir wollen nicht Wissen sondern Können!“ Damit summierte am Tag der Offenen Tür ein Vizedirektor die Idee seines Gymnasiums. Können ist prima, doch frage ich mich da natürlich: welches Können kann es ohne Wissen geben? Aber einerlei, Fakt ist, was Du als besondere Begabung von Jungs herausstellst, stellt einfach pädagogisch keinen Wert mehr dar.
Dieser Weg aber wäre nun unbedingt noch weiter zu verfolgen gewesen. Es stellen sich da doch wichtige Fragen, nämlich:
Ist der reformpädagogische Einfluß auf die Gestaltung des Unterrichts vielleicht – völlig unabhängig möglicherweise von einer gewollt einseitigen Mädchenförderung – ursächlich mit der Jungenkrise verbunden? Und müßte man dann nicht viel grundsätzlicher argumentieren als manche Männer- und Jungenforscher das heute tun? Also pointiert und etwas polemisch formuliert: Statt zu sagen: Was Jungs Spaß macht, werde nicht stark genug berücksichtigt (vgl. S. 59 unten) und deswegen bräuchten wir mehr Spaß für Jungen in der Schule, vielmehr zu erwägen, ob nicht diese Spaßpädagogik als solche Jungen schadet und Mädchen begünstigt.
Natürlich hättest Du dazu keine gesicherten Thesen vertreten können, da wohl keinerlei Untersuchungen dazu vorliegen. (Eine Kritik der Reformpädagogik ist genausowenig politisch gewollt wie eine Kritik der Mädchenförderung. Nicht auszudenken, wenn sich auch noch gleich beides als Irrweg erwiese!) Aber da sich diese Frage doch notwendig stellt, darf der Verweis darauf nicht fehlen. Es ist nun einmal so, daß die Frage nach der Jungenkrise in der Schule für sich schon vielschichtig ist, sie aber dann auch noch vielfach mit der allgemeinen Bildungskrise, die seit PISA diskutiert wird, verflochten ist.
Ich will auf diesem Weg noch ein wenig weiter gehen. Ab S. 56 betreibst Du Ursachenforschung: „Unsere Schulen sind vielfach auf Jungen als Zielgruppe nicht mehr ausgerichtet.“ Nicht mehr, das heißt für mich: Sie waren es aber einmal! Dieser Gegensatz wird aber nicht wirklich ins Zentrum der Fragestellung gerückt; denn zwar wird zunächst das bekannte Argument von der zunehmenden Verweiblichung des Lehrkörpers gebracht – ganz richtig! -, dann aber stoße ich plötzlich auf: „Das gesamte System Schule scheint eher der weiblichen als der männlichen Frühentwicklung gerecht zu werden.“ (S. 58) Aber gerade DA hat sich doch seit Jahrhunderten nichts geändert. Wenn man aber zurecht anmerkt, daß es in den letzten Jahrzehnten eine Entwicklung gegeben hat („nicht mehr“!), die zunehmend Jungen Mädchen gegenüber benachteiligt, dann kann man als Argument nicht einen Zustand schildern, der nie einer Veränderung unterlegen hat. Das gilt in noch stärkerem Maße für das Argument vieler Männerforscher, in der Schule würde dem Bewegungsdrang der Jungen nicht ausreichend Rechnung getragen, als hätten Jungen nicht über Jahrtausende hinweg in der Schule stillsitzen, aufmerken und sich konzentrieren müssen - und zwar mit bestem Bildungserfolg! Deswegen ist solchen Vorschlägen und Erklärungsmustern mit Skepsis zu begegnen und einmal mehr ganz explizit zu fragen: WAS hat sich denn wirklich in den letzten Jahren verändert. Was ist nicht mehr so wie zu der Zeit, als Jungen die Mädchen noch überflügelten? Wohlgemerkt: in der Schule. Auf gesellschaftlichem Gebiet stellst Du ja genau diese Frage und gehst ihr auch gezielt nach.
In der Schule hat sich aber nicht nur die Besetzung des Lehrerzimmers nach Geschlechtsanteil verändert. Darauf aufmerksam zu machen ist wichtig; wäre es aber nicht nötig gewesen, auch darauf hinzuweisen, daß es möglicherweise noch viel mehr um „die Haltung und Arbeitsweise aller Lehrkräfte, unabhängig vom Geschlecht“ geht, wie Guggenbühl wohl nicht ganz zu unrecht anmerkt? Dann nämlich drängt sich geradezu auf: „Die Verweiblichung der Schule betrifft vor allem die Pädagogiken, nach denen sich die Schule ausrichtet. Unterrichts- und Erziehungsformen wurden eingeführt, die tendenziell den Mädchen entsprechen.“ Die „Verweiblichung“ kann folglich auch kaum bei denjenigen Tatsachen des Schulalltags zu suchen sein, die noch nie anders waren. Was, so wird man demnach fragen müssen, wurde an den Schulen denn neu „eingeführt“? Womit sich der Kreis wieder schließt: Wäre dies nicht also vielleicht dasjenige, was Josef Kraus, ein exzellenter Kenner der Schulwirklichkeit wie der zugehörigen pädagogischen Theoriebildung und Bildungspolitik, einst despektierlich als „Spaßpädagogik“ bezeichnet und untersucht hat? Für Martin von Crefeld übrigens ist dies eine ausgemachte Sache: „Je weniger anspruchsvoll und fordernd eine Schule ist, desto besser sind die Mädchen im Vergleich zu den Jungen.“ Dem wäre wenigstens einmal nachzugehen. Doch fürchtet man sich hier womöglich vor den Ergebnissen. Jedenfalls weist die Tatsache, daß die Leistungsdifferenz offenbar am Gymnasium noch am geringsten ist, in diese Richtung.
Wir brauchen jedenfalls eine nicht nur synchrone Untersuchung von Bildung, Schulalltag und zugehöriger Pädagogik, sondern müssen unser Augenmerk viel mehr auf diachrone Aspekte, also auf die jüngsten Entwicklungen in diesen Bereichen richten: Was war noch anders als Jungen gute Schulabschlüsse machten? Diese Untersuchungen liegen nicht vor. Man will sich möglicherweise davor hüten. Aber um die Notwendigkeit einer solchen Fragestellung einzusehen, dazu muß man kein Fachmann sein.
Einige Dinge gehören unbedingt in diesen Erwägungszusammenhang: Schule heute, das ist „die Förderung der Selbst- und Sozialkompetenz, der Kommunikation, das selbstgesteuerte Lernen, Partner- und Gruppenarbeit“ – alles wohl Eigenschaften, die Mädchen entgegenkommen. Zu unserer Zeit gab es: lehrerzentrierten Unterricht, Frontalunterricht, auf Wissenserwerb gerichtete Pädagogik, Autorität statt Endlosdiskussion und Zentrierung auf Bildungsinhalte ohne ideologische Verzweckung ganz gleich welcher Art: Bildung um der Bildung willen, nicht Ausbildung um des Berufes willen. Daß auch letztgenannte, prinzipiell verwertungszweckfreie Allgemeinbildung Jungen eher anspricht, ist meine persönliche Meinung, die sich aus Beobachtungen über Männer beim zwecklosen Spiel (Homo ludens) oder Wissen um des Wissens willen speist. All dies wäre natürlich nicht bloß zu behaupten, sondern zu untersuchen. Indessen behauptet wird ja nichts, sondern nur gesagt, welcher Weg beschritten werden muß und wonach zu suchen ist. Dazu braucht man kein Fachmann zu sein.
Es ist nun mal so, daß wir bei uns zwei große gesellschafts- bzw. bildungspolitische Veränderungen oder Entwicklungen beobachten können:
1. die zunehmende Etablierung der feministischen Ideologie als Staatsdoktrin mit ihrem Frauen- und Mädchenförderwahn etc. und
2. den radikalen Abbau der in der Welt einzigartigen und vielfach bewunderten deutschen Bildungstradition: weg von Humboldt, weg vom Bildungsideal der humanistischen deutschen Klassik, hin zur reinen Ausbildung für Berufs- und Wirtschaftszwecke, weg von Wissen und Erkenntnis hin zur bloßen Information, weg von einer soliden Erlernung der Muttersprache hin zu Englisch ab der ersten Klasse und vor allem weg von Lernen, Anstrengung, Freude am Wissen hin zu Spaß und Event und zu quantifizierbaren, evaluierbaren Ergebnissen. Diese Liste wäre fortzusetzen.
In beiden Punkten ist der Standpunkt der Kritiker unerwünscht. Gegen ihn wird mit ähnlichen Methoden von „Experten“, Politikern und Journalisten gekämpft bzw. geschwiegen. Das sind Paralleltendenzen. Ist diese Parallele Zufall oder nicht? Ein Zusammenhang ergibt sich nicht zwangsläufig; nach ihm aber zu forschen, muß im Interesse gerade der seriösen Kritiker liegen. Insbesondere dann, wenn man sich unter 1. spezifisch an das Jungen-Bildungs-Problem macht. Das drängt sich dann von selber auf. Freilich wird man dazu auf beiden Feldern gleichermaßen zu Hause sein müssen.
Egal nun, was an Erkenntnissen aus solchen Untersuchungen zu gewinnen wäre, eines scheint ganz offenkundig: Jungen müssen in der Schule andere Erfahrungen machen als Mädchen, sie müssen anders angepackt werden, und möglicherweise, nein höchstwahrscheinlich brauchen sie Unterricht nach einem anderen pädagogischen Paradigma, welches auch immer das sei. Dies aber ist unter der Voraussetzung von Koedukation kaum möglich. Deshalb glaube ich, daß Deine dahingehende Position auf S. 162 nicht hinreichend durchdacht ist. Die Studie immerhin, die Du erwähnst, wird ganz sicher von gleichartiger pädagogischer Grundlage ausgehen. Dann ist natürlich mit getrenntgeschlechtlichem Unterricht nichts gewonnen. Nicht die physische Präsenz von Mädchen aber ist es, die Jungs davon abhält ihrem Niveau entsprechende Leistungen zu bringen, sondern eine Pädagogik und ein Curriculum – in Deutschland wird in der Bildungsdebatte viel zu wenig über Inhalte gesprochen! -, welche sich von ihnen, den Jungs, wegverändert haben. Ob aus feministischen oder reformpädagogischen Motiven, ist dabei letztlich zweitrangig.
Einen herzlichen Gruß
Berndt
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