Donnerstag, Juli 13, 2023

"Die Welt": "Warum Sexismus gegen Männer oft unsichtbar bleibt"

1. Unter der Überschrift "Warum Sexismus gegen Männer oft unsichtbar bleibt" in der Druckausgabe der "Welt" (online wurde eine andere Überschrift gewählt) heißt es:

Über die Diskriminierung von Männern redet selten jemand. Der jetzt erschienene Sammelband "Oh Boy" will das ändern. Er offenbart die ungeheure Gewalt des "Brotverdiener-, Beschützer-, Krieger-sein-Müssens".

(…) Anders als Rehabilitationsversuche "alter weißer Männer" in Buchform (etwa von Sophie Passmann oder von Nena Brockhaus und Franca Lehfeldt) es zuletzt taten, erklärt "Oh Boy" den Mann nicht zur Zielscheibe eines aus dem Ruder gelaufenen Feminismus, sondern als gleichwertiges Opfer repressiver Geschlechterordnungen.

(…) Es überzeugt auch, weil feministische Argumentationsweisen vielleicht erst, wenn Männer sie sich selbstbewusst angeeignet haben, an breiter gesellschaftlicher Akzeptanz gewinnen: "Viele Feminist:innen sagen, dass cis Frauen und Kinder in Kriegszeiten am vulnerabelsten wären. Und was ist mit cis Männern? Werden sie denn nicht an die Front geschickt, sterben sie nicht in den Schützengräben, müssen sie sich verdammt noch mal nicht an das Gewicht einer Waffe gewöhnen? … Ich denke daran, wie oft Männer schwere Lasten auf dem Rücken tragen. Ich denke an all das, was Männer erledigen müssen und das zu Recht oder zu Unrecht als Privileg bezeichnet wird, weil Brotverdiener-, Beschützer-, Krieger-sein-Müssen nicht als ‚Mental Load‘ aufgefasst wird."

(…) Das Nachwort hat die einzige Frau des Bandes verfasst, die Kulturwissenschaftlerin und Romanautorin Mithu Sanyal. Für jede Zuschreibung existiere eine erschütternde Gegenzuschreibung. Hier die kleine Zicke, dort der kleine Pascha. Damit greift sie Robinets Analogie auf: Während Frauen vor die Alternative "Heilige oder Hure" gestellt würden, ergäbe sich für Männer das Schema "Krieger oder Loser".

Auch Sanyal geht es darum, etwas oft Unsichtbares zu benennen: Sexismus gegen Männer. Robinet betont mit Blick auf die Statistik, dass Männer zu wahrscheinlicheren Opfern von Raub, Nötigung, Körperverletzung und Tötungsdelikten werden, Sanyal verweist auf die erhöhte Wahrscheinlichkeit von Krankheiten, Suiziden und Blitzeinschlägen.




2. Mit "In Frankreich tritt das Elend der modernen Männlichkeit offen zutage" betitelt die Neue Zürcher Zeitung einen Artikel des Soziologen und Männerforschers Professor Walter Hollstein (Bezahlschranke). In dem Artikel heißt es:

In den letzten Wochen brannte es in den französischen Städten. Die Täter: fast ausnahmslos junge Männer, sehr junge Männer, männliche Jugendliche. Das ist nicht neu, nicht in Frankreich und nicht anderswo: die Silvesternacht in Berlin, Madrid, Rom, Manchester, Brüssel.

Es ist ja auch nicht so, dass das völlig überraschend gekommen wäre. Lord Dahrendorf, der Soziologe, hat schon vor vierzig Jahren vor den «angry young men» gewarnt und vor den sozialen Folgen für die Gesellschaft. Jetzt erleben wir es, wieder einmal. Mittlerweile zeigt sich bloss noch rohe Gewalt. Das aber heisst nicht, dass die jungen Männer grundlos handeln. Normverletzungen können ein Handlungskonzept sein, um wahrgenommen zu werden und dergestalt auch eigenes Ohnmachtserleben loszuwerden. Tatsächlich verweist dieser Gewaltexzess im Tiefsten auf Verzweiflung.

Die jungen Männer aus Nanterre, Molenbeek oder Kreuzberg sind Täter und zugleich Opfer ihrer Lebensumstände, Täteropfer gewissermassen. Sie allesamt stammen aus einem Dschungel doppelten Elends: der ökonomischen und der kulturellen Verelendung. Sie sind fast ausschliesslich in Armut aufgewachsen, in sozial abgehängten Gegenden. Ihr beschränkter materieller Rahmen bedingt Bildungsferne, eine restringierte Sprache und die totale Abneigung gegenüber dem, was man "bürgerliche Hochkultur" nennt.

Auch die Schule ist für sie eine feindliche Institution. Ihre Schulleistungen sind dann nur folgerichtig schlecht, was wiederum die Chancen stark vermindert, einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Zudem bewirken schlechte Schulleistungen bei anderen ein Verhalten von Ablehnung und Missachtung. Scheitern ist dann institutionell vorgegeben; über den Schulabbruch geht die Verelendungsspirale in die Arbeitslosigkeit und in ein dauerhaftes Prekariat. Die jungen Männer leben ohne Perspektive – von Tag zu Tag. Es verbleibt ihnen nichts anderes als die Körperlichkeit; ihr einziger Besitz ist die männliche Kraft. (…) Und: In Kindergärten, Ganztageseinrichtungen, Schulen und Beratungsinstanzen stossen Jungen ständig an weibliche Grenzsetzungen.

In ihrer Motorik und Renitenz drücken sie dann häufig ihren Widerstand gegen die Erziehungseinrichtungen als weibliche Bastionen aus. Die amerikanische Philosophin Christina Hoff Sommers hat die Entwicklung sarkastisch kommentiert: Tom Sawyer und Huckleberry Finn würden heute in der Frauenschule Ritalin verordnet bekommen, um ruhiggestellt zu werden.

Wenn man präzis verfolgt, wie männliche Eigenschaften in den vergangenen vier Jahrzehnten dargestellt worden sind, wird ein drastischer Perspektivenwechsel deutlich. Wurden früher zum Beispiel Mut, Leistungswille oder Autonomie von Männern hochgelobt, so werden heute diese einstigen Qualitäten als Aggressivität, Karrierismus und Unfähigkeit zur Nähe stigmatisiert.

Das aktuelle Wort von der toxischen Männlichkeit pathologisiert kurzerhand alles, was nicht weiblich ist. Die normative Abwertung des männlichen Geschlechts wird von objektiven Entwicklungen begleitet. Die Wirtschaft im Westen tendiert seit geraumer Zeit in Richtung des "weiblichen" Dienstleistungsgewerbes und zur sukzessiven Schrumpfung der "männlichen" Industriearbeit.

Männliche Arbeitszonen wie Stahlproduktion, Bergbau und Schwerindustrie haben sich im Westen nahezu aufgelöst. Nicholas Eberstadt belegt in seiner Untersuchung "Men without Work: America’s Invisible Crisis", wie sehr den amerikanischen Männern die Arbeit ausgeht und sie damit immer mehr zum sozialen Problem werden.

Im Buch mit dem bezeichnenden Titel "Das Ende der Männer und der Aufstieg der Frauen", das auch bei uns ein Bestseller war, analysiert Hanna Rosin den epochalen Niedergang amerikanischer Männlichkeit. Während der grossen Rezession ab 2007 waren drei Viertel der 7,5 Millionen Entlassenen Männer, 2009 waren zum ersten Mal mehr Frauen erwerbstätig als Männer.


Abschließend plädiert Professor Hollstein dafür, dass unsere Gesellschaft Männern ebenso alternative Lebensentwürfe als die bisherigen Rollenkorsette anbietet, wie es bei den Frauen seit den siebziger Jahren getan wurde.



3. Wie die Neue Zürcher Zeitung ebenfalls berichtet, heiraten Frauen bildungsmäßig immer öfter nach unten – solange der Mann gut verdient.



4. Einen typischen Fall häuslicher Gewalt gab es in Frankreich:

Weil sie sich von ihrem Mann betrogen geglaubt hat, hat eine Frau dem 45-Jährigen in Südfrankreich bei einem heftigen Streit ein Stück vom Penis abgerissen. Die 36-Jährige habe dem Mann die Haut vom Penis abgerissen. Zudem habe sie auf das Ohr des Mannes geschlagen, teilte die Staatsanwaltschaft in Toulouse am Mittwoch mit.

Die Frau sei bei dem Beziehungsstreit ebenfalls verletzt worden. Der Mann wurde deshalb in Polizeigewahrsam genommen. Er wurde für 21 Tage krankgeschrieben. Die Frau kam auf freien Fuß.


Das ist das Praktische an häuslicher Gewalt: Man weiß immer sofort, wen man festnehmen muss.



5. Die Berliner Zeitung hat eine weitere Frau interviewt, die – mithilfe einer Petition – die Rammstein-Konzerte verbieten lassen möchte. Sie setzt sich ansonsten bei dem Verein Gender Equality Media gegen Sexismus in der medialen Berichterstattung ein. Ein Auszug aus dem Interview:

Berliner Zeitung: Mit welchen Argumenten würden Sie die Landesregierung überzeugen, die Konzerte abzusagen?

Britta Häfemeier: Das könnte jetzt unser Moment sein, dass wir etwas ändern. Berlin könnte ein Vorbild sein für viele andere später, wenn die Landesregierung den Mut hätte, den Frauen und auch der öffentlichen Wahrnehmung zu glauben.

Berliner Zeitung: Wenn die Landesregierung die Konzerte aber ohne Beweislage absagt, ist das ein Eingriff in die Demokratie. Sind ihr hier nicht die Hände gebunden?

Britta Häfemeier: Es sagt doch keiner, dass Lindemann ohne Prozess, ohne Anwalt, ohne Gericht ins Gefängnis gesteckt werden soll. Meiner Meinung nach müssen die Konzerte so lange abgesagt werden, bis wir alle wissen, was da passiert ist. Und es muss alles dafür getan werden, dass diese Dinge aufgeklärt werden. Die Unschuldsvermutung gilt genauso für die Frauen.

Berliner Zeitung: Dennoch würde die Absage der Konzerte für Rammstein einen Nachteil bedeuten für etwas, für das es noch keine Beweise gibt. Wer soll diesen Ausfall zahlen?

Britta Häfemeier: Ich bin keine Juristin. Das macht unser juristisches System. Ich finde, es kann nicht sein, dass ein Mensch, der gerade diese Anschuldigung an sich haften hat, dreimal das Olympiastadion in Berlin vollmacht.

(…) Berliner Zeitung: Aber hätte der Aufschrei nicht schon vor Lynns Anschuldigungen kommen müssen – immerhin kursierten diverse kritische Videos über Lindemann schon viel länger im Netz?

Britta Häfemeier: Man hat auch vorher schon gesehen, dass Rammstein sexistische Texte hat. Sie spielen auch mit einer gewissen Symbolik – allein über das rollende R und den Leni-Riefenstahl-Style in ihren Musikvideos. Es gab zwar mehrere Aufreger, jedoch sagten viele Menschen, man müsse Künstler und Mensch beziehungsweise das künstlerische Ich sozusagen von der Person trennen. Die aktuelle Debatte ist aber ein perfektes Beispiel dafür, dass diese Trennung nicht funktioniert. Wenn man Gedichte über K.o.-Tropfen schreibt, die man gerne Frauen verabreichen will, dann wird das wahrscheinlich auch in der Realität zutreffen.


Ich habe den Eindruck, sie versteht das Konzept der Unschuldsvermutung wirklich nicht.

Und ich frage mich, wie Britta Häfemeier reagieren würde, wenn jemand Vorwürfe gegen sie erheben würde und andere Leute fordern würde, sie solle ihren Job erst mal ruhen lassen, bis das alles geklärt ist.

Der Berliner Kultursenator hat ein Konzertverbot für Rammstein inzwischen abgelehnt. Rechtlich gebe es dafür keine Grundlage.



6. "SWR Wissen" hat den viertelstündigen Beitrag "Jungenbeschneidung in Kenia - eine fatale WHO-Kampagne" auf Youtube online gestellt.



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