Trittin im Wahlkrampf: "Ja, so ist er, der Schwarze!"
Wolfgang Büschner hat Jürgen Trittin beim Wahlkampf begleitet und berichtet in der "Welt" über seine Beobachtungen. Er beginnt mit einer Veranstaltung sämtlicher Bundestagsparteien in Göttingen, wo Trittin von einem Bürger zur Rede gestellt wird:
Jürgen Trittin (...) duckt sich leicht. Eine Geste, als wolle er sich zwischen die hochgezogenen Schultern zurückziehen. Das ist er nicht gewohnt, man sieht es ihm an: moralisch infrage gestellt zu werden. Das war doch sein Part: andere moralisch infrage zu stellen. (...) Wie der strenge Pastor, der immer so scharf predigt, und dann wird er im Bordell erwischt, so schaut er jetzt aus.
(...) Man möchte ihn rütteln. Ihm sagen, jetzt sag doch mal was. Nicht viel. Ein, zwei Sätze, meinetwegen abgehackt, unelegant, grammatisch falsch. Aber echt. Echtes Bedauern. Ein Mitgefühl mit den Kindern, die auf dem Altar der sexuellen Revolution vernascht wurden. Was hindert dich denn an so einem Wort, möchte man ihn fragen, du selbst hast doch keinen Dreck am Stecken? Du bist doch frei davon. Jetzt sag halt was!
Aber keine Sorge, alles ist so abgesprochen, dass Trittin ausreichend Schutz vor den inquisitorischen Bürgern erhält:
Nun meldet sich ein Herr aus dem Publikum: "Ich habe eine Frage an Herrn Trittin." Der Moderator: "Nein! Wird nicht zugelassen." Der Herr mit der Frage setzt nach: "Aber die Positionen auf dem Podium sind doch sehr homogen …" Der Moderator: "Nein, nein! Nicht zugelassen. Da kämen wir ja vom Hundertsten ins Tausendste." Und weiter geht's auf dem Podium, rasch hin zu den brennenden Themen Handball und Sport in Göttingen.
(...) Warum sagt jetzt Jürgen Trittin nicht zum Moderator: "Nun lassen Sie doch den Mann seine Frage stellen?" Ja, warum nicht? Weil das hier Politik ist. Große Politik. Wahlkampf, die letzten Meter vorm Ziel. Weil Jürgen Trittin der Marathonmann der Grünen ist. Weil er nicht sieht, dass der Moment gekommen ist, in dem er nicht zuallererst Wahlkämpfer sein darf. Weil er sich bestätigt fühlt in seiner unerschütterlichen Polit-Professionalität fast vom gesamten Podium. Weil die Fünf-Minuten-Terrine, in der das störende Thema kurz aufgewärmt wird, vorab so abgemacht war.
Bei der nächsten Veranstaltung, sie findet auf einem Marktplatz statt, zeigt Trittin, dass er auch ganz anders kann:
Er spricht das heikle Thema an, natürlich. Aber das hier ist keine Mehrzweckhalle, das ist jetzt ein Marktplatz. Das ist richtig Wahlkampf. Es geht ums Ganze. "Es wird sauknapp!", ruft er den Seinen zu. Die Selbstkritik ist jetzt genau drei Sätze lang, und sie klingt wie eine Attacke: "Wenn wir Grünen zu sexuellem Missbrauch eine falsche Position eingenommen haben, dann sollte man zur Kenntnis nehmen, dass wir das überwunden haben! Wir stellen uns diesem Anspruch! Wir lassen das aufarbeiten!" Dann geht es lang und breit gegen "die Schwarzen". (...) Die leidige Pädo-Chose ist jetzt vor allem eines: eine Hetzkampagne der CDU. "Ja", ruft Trittin, "aggressiv und zu Hetzkampagnen neigend, so ist er, der Schwarze!"
Na dann ist die Verteilung von gut und Böse ja wieder im Lot. Zumindest in Trittins Kopf. Und vermutlich im Kopf nicht weniger seiner Getreuen.
Einer dieser "Schwarzen" ist Ruprecht Polenz. Während Trittin durch die Gegend agitiert, erklärt dieser auf Facebook seinen Lesern, warum auch er so "aggressiv und zu Hetzkampagnen neigend" ist, also zu deutsch, die Pädophilie-Verstrickungen der Grünen ebenfalls zum Thema gemacht hat:
Es geht um den HEUTIGEN Umgang der Grünen mit ihren Pädophilie-Beschlüssen der 80er Jahre
"Wahlkampf, Schlammschlacht" heißt es in empörten Kommentaren, weil ich Zeitungsartikel auf meiner Pinnwand verlinkt habe, die sich mit den Pädophilie-Beschlüssen der Grünen aus den 80er Jahren und der Frage auseinandersetzen, wie die Grünen heute damit umgehen. Dazu einige Anmerkungen:
1. "Wahlkampf"? - Nein. Nicht der politische Gegner hat nachgefragt, sondern Zeitungen wie die linke TAZ, die Zeit oder Zeitschriften wie Spiegel oder Stern (die allesamt der CDU nicht nahe stehen). Außerdem hätten die Grünen Jahrzehnte Zeit gehabt, sich mit den damaligen Beschlüssen und ihren Folgen zu befassen, wonach "einvernehmliche" sexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen und Kindern straffrei gestellt werden sollten. Es hat viel zu lange gedauert (und geschah nur auf Druck von außen), bis die Grünen Prof. Walter mit der Aufarbeitung beauftragt haben. Für den Zeitpunkt der Debatte sind die Grünen selbst verantwortlich.
2. "Es ist lange her. Was interessiert das heute noch? Es sich bisher noch kein einziges Opfer gemeldet." - Falsch und zynisch. Missbrauch fängt nicht erst mit Vergewaltigung an. Opfer sind ihr Leben lang traumatisiert. Zu den Folgen gehört, nicht oder nur sehr schwer darüber sprechen zu können. Bis heute haben die Grünen KEINE ANLAUFSTELLE FÜR OPFER eingerichtet und NICHT ÖFFENTLICH DAZU AUFGEFORDERT, SICH ZU MELDEN.
3. Es geht darum, wie die Grünen HEUTE mit ihren damaligen Beschlüssen umgehen. Man spricht von "Textbausteinen", die irgendwie ins Programm gerutscht seien - als hätte es damals schon "copy and paste" gegeben. Man behauptet wie Volker Beck, sinnentstellend zitiert worden zu sein und versucht so, die Öffentlichkeit hinters Licht zu führen. Man spricht von "grobem Unfug", den man damals beschlossen habe, so als habe es sich um einen zu derben Studentenstreich gehandelt.
4. Und natürlich kann sich keiner der Beteiligten mehr erinnern, weil es ja so lange her ist und man sich eigentlich mit ganz anderen Themen beschäftigt habe. - Das Dumme ist nur, dass mir kein einziger Fall einfällt, auch keiner von minderem Gewicht, bei dem die Grünen das bei anderen als Entschuldigung hätten gelten lassen.
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