Freitag, November 22, 2024

Vergewaltigungsprozess von Avignon: "Anstatt dem Sexismus gegen Frauen ein Ende zu setzen, dreht man ihn um"

1.
Der Prozess um den Missbrauch von Gisèle Pelicot durch mutmaßlich Dutzende Täter hat eine Debatte über die Schuld der Männer insgesamt entfacht. Die Pariser Soziologin Nathalie Heinich empört das.


Spiegel-Online hat sie hierzu interviewt:

SPIEGEL: Frau Heinich, das Verfahren von Avignon wird von manchen als Prozess gegen die Männlichkeit bezeichnet. Sie sehen darin einen Verrat an der Demokratie. Übertreiben Sie nicht ein wenig?

Heinich: Nein. Rechtsstaatlichkeit in demokratischen Gesellschaften beruht darauf, dass über einzelne Personen und ihre Taten geurteilt wird – nicht über Gruppen. Wer Menschen wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft als schuldig betrachtet, begeht eine widerwärtige Ungerechtigkeit. Aus solchem Denken heraus wurde das Massaker des 7. Oktober 2023 begangen, als in Israel Menschen von der Hamas ermordet wurden, weil sie Juden waren. »Die Männer an und für sich« ist eine Kategorie. Der Begriff des Patriarchats ist auch eine. In einer Demokratie urteilt ein Gericht nie über Kategorien.

SPIEGEL: Finden Sie es nicht gut, dass der Prozess eine breite Debatte über sexualisierte Gewalt gegen Frauen ausgelöst hat?

Heinich: Die Debatte ist legitim. Allerdings lehne ich es ab, dass sie in eine Anklage gegen die Männer verwandelt wird.

SPIEGEL: Die Taten, über die wir hier sprechen, sind typisch männliche Verbrechen. In Frankreich sind 96 Prozent der Beschuldigten Männer, in Deutschland sind die Zahlen ähnlich.

Heinich: Das stimmt. Zum Glück gibt es aber sehr viele Männer, die niemals zu Vergewaltigern würden.

(…) SPIEGEL: Im Fall Pelicot fanden mutmaßlich mehr als 80 Männer nichts dabei, eine bewusstlose Frau zu missbrauchen. Keiner von ihnen hat sich bei der Polizei gemeldet, auch nicht anonym.

Heinich: Diese Männer sind in keiner Weise repräsentativ. Auf dem Portal, über das sie vom Hauptangeklagten Dominique Pelicot zur Vergewaltigung seiner eigenen Frau angeheuert wurden, tauschten sich hauptsächlich Menschen mit einschlägigen sexuellen Neigungen aus. Hier ist nicht toxische Männlichkeit das Thema, sondern die mangelhafte Kontrolle des Internets, die solche Verbrechen ermöglicht. Das Netz hat zur Normalisierung einer Sexualität geführt, die sich an gewaltsamen Pornofantasien orientiert.

SPIEGEL: Die Seite coco.gg, über die Dominique Pelicot seine Mittäter fand, ist im Juni verboten worden. Dort soll auch pädophiles Material geteilt worden sein.

Heinich: Warum ist das Verbot nicht viel früher gekommen? Es ist schwierig, Internetkriminalität zu bekämpfen, aber es ist möglich. Einfacher ist es natürlich, »das Patriarchat« anzuprangern. Das ist allerdings auch weniger wirksam.

(…) SPIEGEL: In Frankreich haben 200 teils bekannte Männer wie der Schriftsteller Gaël Faye einen offenen Brief geschrieben, in dem sie eine kollektive Schuld anerkennen. Was soll daran falsch sein?

Heinich: Anstatt dem Sexismus gegen Frauen ein Ende zu setzen, dreht man ihn um. Er richtet sich jetzt gegen die Männer. Aber es bleibt Sexismus. Mein Anliegen ist politisch. Ich führe einen Kampf gegen das Postulat, dem zufolge man stets Vertreter einer Gemeinschaft ist, der man angehört. Gern wird diese Annahme mit einem Herrschaftsverhältnis verknüpft, in dem es um die Unterdrückung einer Gruppe durch eine andere geht. Das ist "Wokismus", und der neigt zu totalitären Auswüchsen. Darüber habe ich ein ganzes Buch geschrieben.

SPIEGEL: Lehnen Sie auch den Begriff der »rape culture« ab, also, dass eine Art Vergewaltigungskultur herrscht? Sexualisierte Gewalt, etwa in der Ehe, wird oft noch toleriert.

Heinich: Leider werden Vergewaltigungen teils noch verharmlost, und die Taten werden dadurch erleichtert. Um aber von einer Kultur zu sprechen, müsste es öffentliche Wertschätzung dafür geben. Das ist nicht der Fall. Sexuelle Gewalt stünde dann auch nicht unter Strafe. Das tut sie aber, selbst wenn die Täter viel zu oft davonkommen. Ich wünsche mir, dass jene, die bei uns von »rape culture« sprechen, in anderen Ländern genauso scharf hinsehen. Ich meine Länder, in denen islamisches Recht angewendet wird und in denen eine sexistische, patriarchale Kultur viel mehr anrichtet als in Europa.

(…) SPIEGEL: Sie sind nachsichtig mit den Männern, trotzdem reklamieren Sie den Feminismus für sich. Wie geht das zusammen?

Heinich: Ich gehöre zur alten Schule des Feminismus, die einen universalistischen Ansatz hat. Sie zielt nicht darauf ab, systematisch den Unterschied zwischen den Geschlechtern zu betonen, sondern im Gegenteil darauf hinzuwirken, dass dieser Unterschied außer Acht bleibt. Jedenfalls wenn er irrelevant ist. Feminismus soll kein Krieg der Geschlechter sein, sondern ein gemeinsamer Kampf von Frauen und Männern für Emanzipation und Gleichstellung. Für die Neofeministinnen aber steht die Gemeinschaft der Frauen gegen die Gemeinschaft der Männer. Das ist für mich das Gegenteil von Feminismus.


Es ist, als ob plötzlich eine Erwachsende den Raum betreten hätte, in dem zuvor nur unreife, ideologisierte Halbwüchsige herumgegackert haben.



2. Viele deutsche Medien haben in den letzten Tagen unkritisch über die 4B-Bewegung berichtet, deren weibliche Mitglieder als Reaktion auf Trumps Wahlsieg näheren Kontakt mit Männern vermeiden. Im Magazin "Time" erklärt die Feministin Maria Yagoda, warum diese Bewegung daneben ist:

"Ich tue meinen Teil als amerikanische Frau, indem ich mit meinem republikanischen Freund Schluss mache und mich heute Morgen offiziell der 4B-Bewegung anschließe", teilte eine Frau auf Tiktok am Tag nach der Wahl mit. Eine andere erklärte den Ursprung von 4B folgendermaßen: "Die 4B-Bewegung ist eine Bewegung in Südkorea, wo die Frauenfeindlichkeit und der Sexismus so schlimm sind, dass südkoreanische Frauen beschlossen haben, sich ganz von Männern fernzuhalten." Einige Frauen rasierten sich vor der Kamera stolz den Kopf, um für den männlichen Blick weniger attraktiv zu sein, als ob eine Glatze uns vor Gewalt und Unterwerfung schützen könnte - ein Schritt, den ich, eine Krebspatientin, mit Belustigung beobachtete und über den sich Konservative gerne lustig machten.

(...) "4B steht am extremen Ende des gesamten Spektrums der Frauen in Südkorea, die sich dafür entscheiden, ledig und kinderlos zu bleiben", sagt [die feministische Journalistin Hawon] Jung. Extrem, zum Teil wegen der Feindseligkeit gegenüber Transfrauen, erklärt Jung. "Viele dieser jungen radikalen Feministinnen in Südkorea behaupten, dass andere Feministinnen, einschließlich der etablierten Frauenrechtsgruppen, ihren Fokus verloren haben, indem sie sich mit anderen sozialen Minderheitengruppen verbündet haben, die zum Beispiel für die Rechte von Arbeitnehmern, Behinderten oder sogar für die Rechte sexueller Minderheiten kämpfen", sagt Jung, "und sie schwören, 'nur biologische Frauen' zu unterstützen."

Im Gegensatz zum Diskurs in den USA nach den Wahlen, den ich noch nicht einmal als "Bewegung" bezeichnen möchte, geht es bei den ursprünglichen 4B in erster Linie um die Ablehnung der Institution der Ehe, sagt Jung, und die anderen Bs folgen natürlich "als unvermeidliche Folge der Ablehnung der Ehe. In der konservativen Gesellschaft Südkoreas wird die Partnersuche vor allem von den Männern als Vorstufe zur Ehe und die Ehe als Vorstufe zur Geburt eines Kindes angesehen, so dass viele, die ledig oder kinderlos bleiben wollen, sich auch nicht verabreden."

(...) Abgesehen von den Missverständnissen über die südkoreanische Bewegung klingen viele der anderen Aufrufe zum Handeln in den USA etwas hohl, da sie darauf hinauszulaufen scheinen, es den Männern "heimzuzahlen", weil sie eine zweite Trump-Präsidentschaft zugelassen haben. Der Gedanke, Männer für die jüngsten Verstöße gegen die Rechte der Frauen zu bestrafen - als ob Frauen nur zum Nutzen ihrer männlichen Partner Sex hätten -, geht an vielen schmerzlichen Realitäten vorbei, darunter die Tatsache, dass eine eindeutige Mehrheit weißer Frauen für Trump gestimmt hat oder dass die zentristische Strategie der Demokraten weitgehend gescheitert ist.

Die vielleicht schwerer zu schluckende Pille ist, dass "das Problem", mit dem wir derzeit konfrontiert sind - die erschreckende, ja sogar schadenfrohe Zurückdrängung des Abtreibungsrechts, die bereits zum Tod von Frauen führt -, weniger mit schlecht handelnden Männern zu tun hat, als manche Frauen vielleicht glauben möchten, sondern vielmehr mit einem kaputten System (und einer ideologisch geprägten Justiz, die in ethischen Kontroversen verstrickt ist). Es ist auch erwähnenswert, dass Frauen und Männer, die Trump lieben und für ihn gestimmt haben, von dieser Art von Bewegung nicht betroffen wären: Laut einer Studie der University of Michigan teilen die meisten Paare ihre politischen Überzeugungen, und Republikaner heiraten ohnehin eher als Demokraten, wie eine Gallup-Umfrage vom Juli 2024 ergab.

(...) Südkoreas 4B-Fraktion ist zu randständig und zu kulturspezifisch, um sie sich für eine weiße Gesellschaft zu schnappen. Shepherd, eine in den USA lebender Studentin mit Familie in Südkorea, sieht viele der Beiträge als "wild performativ" an. Er weist darauf hin, dass südkoreanische Frauen nach der Geburt von Kindern oft keine Arbeit finden – "meine Mutter ist Mitte 40 und gilt fast als 'arbeitsunfähig'" - und dass "Frauen am Arbeitsplatz wenig bis gar nicht geschützt sind, die Arbeitskultur die Familien von ihren Kindern fernhält und das brutale Schulsystem die Menschen ebenfalls davon abhält, eine Familie zu gründen." Die 19-Jährige fügt hinzu: "4B wurde unter diesen Umständen entwickelt. Daher ist es ein wenig frustrierend zu sehen, wie Amerikaner und amerikanische Frauen sich auf 4B stürzen und Südkorea als exotischen Entwicklungsort für eine Bewegung nutzen, die sie sich zu eigen machen wollen, obwohl sie über immense Privilegien verfügen."




3. Die Post. Einer meiner Leser schreibt mir heute:

Als regelmäßiger Leser war ich überrascht, keinen Genderama-Beitrag zum Internationalen Männertag am 19.11. gesehen zu haben. Die Behandlung dieses Tages in unseren Medien fand ich nämlich mal wieder symptomatisch. Es gab beispielsweise beim MDR zwar einen Beitrag zum Thema Männergesundheit, der meines Erachtens eher zum Weltmännertag am 3.11. gepasst hätte, ansonsten aber Fehlanzeige. Kein Wort über rechtliche Benachteiligung von Männern, mangelnden Gewaltschutz für männliche Opfer, schlechtere Bildungschancen für Jungen etcetera pp. Statt dessen ausführliche Informationen über Gewalt gegen Frauen und Mädchen sowie entsprechende Forderungen verschiedener Akteure nach mehr Maßnahmen zum Schutz dieser Opfergruppe. Umgekehrt wäre es undenkbar, zum 8. März in einer Randnotiz etwas über Gesundheitsprobleme von Frauen zu lesen, während ausführlich eine zunehmende Gewalt gegen Männer und Jungen beklagt wird.

Ach ja, und beim Bundesforum Männer geht es gleich im ersten Satz um "toxische Männlichkeit". Wer solche "Fürsprecher" hat, braucht wahrlich keine Gegner mehr.




kostenloser Counter