"Frauen im ganzen Land Opfer von Spritzen-Attacken" – die "Maskulinisten" sind schuld
Vor einigen Tagen ging es durch sämtliche deutschen Medien.
Die Berliner Zeitung titelte: "Frauen im ganzen Land Opfer von Spritzen-Attacken"
Die Frankfurter Allgemeine schrieb: "131 Frauen bei französischem Musikfestival mit Spritzen angegriffen"
Der Tagesspiegel schlagzeilte: "Spritzen-Attacken in Frankreich: Die Täter riefen online dazu auf, Frauen auf der Fête de la musique anzugreifen"
Die Berliner Morgenpost: "Spritzen-Attacken waren angekündigt: Zwei Hirnlose genügen"
Die "Zeit": "Unbekannte stechen über hundert Frauen mit Spritzen"
Der WDR zeigte sich besorgt: "Spritzenattacken auf Frauen in Frankreich: Gibt's das auch in NRW?"
Ich könnte noch einige Zeit so weitermachen. Das Internet lässt ja ein bisschen Platz hinten raus. Wennn das alle großen Medien übereinstimmend so berichten, wird es ja wohl auch stimmen.
Aber was war überhaupt geschehen? Die Artikel ähneln sich, eine gute Zusammenfassung liefert die Berliner Zeitung:
Eigentlich soll die Fête de la Musique im Sommer Festivalstimmung auf die Straßen und Plätze zahlreicher europäischer Städte, allen voran Berlin, bringen. Auch in vielen Regionen Frankreichs wurde jetzt ausgelassen gefeiert. Doch ausgerechnet in Paris, wo 1982 das größte Musikfest der Welt seinen Ursprung nahm, kam es am Wochenende zu zahlreichen Angriffen – vor allem auf minderjährige Mädchen. Mindestens 21 der Opfer stammen aus der französischen Hauptstadt.
Insgesamt haben 145 Frauen Anzeige erstattet, wie das französische Innenministerium mitteilte. In Asnières-sur-Seine, nordwestlich von Paris, wurden acht junge Frauen auf dem Rathausplatz mit Spritzen attackiert. Das Rote Kreuz betreute die Betroffenen, sechs von ihnen erstatteten Anzeige. Auch aus anderen Städten wie Metz und Grenoble wurden ähnliche Vorfälle gemeldet.
Einige der Betroffenen mussten in Krankenhäusern behandelt werden, dort werden derzeit toxikologische Untersuchungen durchgeführt. (…) Zwölf Verdächtige wurden festgenommen. Im westfranzösischen Angoulême waren es allein vier, die rund 50 Menschen gestochen haben sollen.
Laut Ermittlern kursierten vor Beginn des Festivals Aufrufe zu den Angriffen in den sozialen Netzwerken. Wie die Zeitung L´Indépendant berichtet, lösten die Aufrufe schon im Vorfeld Angst bei vielen Frauen aus. Die Behörden warnten die Teilnehmerinnen. Noch ist unklar, wer hinter den Aufrufen steckt.
Bei ZDF "heute" glaubt man das aber schon zu wissen:
Dahinter stehe eine Form des Maskulinismus, der Ideologie männlicher Überlegenheit, mit deren Thesen immer mehr Männer in Berührung kommen. Im Netz solidarisieren sie sich, tauschen Tipps zur Gewalt gegen Frauen aus. Attacken mit Spritzen gehören dazu.
Bei Mastodon, Bluesky, Threads und weiß Gott wo sonst noch postete die Organisation "Hate Aid" entrüstet:
Wann ist es genug? (…) Schon wieder wurde aus einer frauenfeindlichen Gewaltfantasie im Netz Realität: 145 Frauen zeigten bis jetzt Attacken an. (…) Uns reicht’s! Noch immer wird digitale Gewalt so dargestellt, als sei sie "gar nicht so schlimm". Doch die Beweise sind längst da: Menschenverachtende Drohungen, Beleidigungen und Co. bleiben nicht im Internet.
Es ist nicht die überregionale oder die Hauptstadt-Presse, sondern das Göttinger Tagblatt, das darüber aufklärt, auf welchen wackligen Beinen die allgemeine Hysterie steht. Dort berichtet Birgit Holzer aus Paris unter der Schlagzeile "Spritzenattacken bei französischem Musikfest: Alles nur Panikmache?" In ihrem Artikel heißt es über die betroffenen Frauen:
Sie klagten über verdächtige Einstichstellen, Übelkeit oder Schwindelgefühl. Sie hatten Angst, Opfer fremder Täter geworden zu sein. Allerdings konnte seitdem kein einziger der angezeigten Fälle bestätigt werden, wie die französische Zeitung "Le Monde" berichtet. Bei Untersuchungen ließen sich demnach entweder keine Einstichstellen nachweisen oder die Betroffenen hielten irrtümlich Mückenstiche für solche. Auch wurden keine psychotropen Substanzen im Blut der Mädchen und Frauen entdeckt, die ins Krankenhaus gekommen waren, weil sie über heftige Ermüdungserscheinungen oder andere plötzlich auftretende Gesundheitsprobleme klagten. In keinem der 145 Fälle wurden Ermittlungen eingeleitet. Mindestens zwölf als verdächtig oder wegen auffälligem Verhalten festgenommene Männer kamen mangels Beweisen wieder frei.
Mückenstiche.
Wie hatte diese Massenpsychose entstehen können? Das Göttinger Tagblatt berichtet weiter:
Zu den ersten, die massiv auf die Gefahr von Spritzenattacken hinwiesen, gehörte das Netzwerk "ActuReact", dem auf Instagram 120.000 Menschen folgen. Laut "Le Monde" hatten der verantwortliche Gymnasiast und sein Team eigenen Angaben zufolge im Vorfeld bestimmte Chat-Gruppen infiltriert. In der Folge teilte das Internet-Medium Warnungen vor Angriffen und Verhaltenstipps vor allem des feministischen Kontos "Abrègesœur". Doch sie erhöhten auch die Furcht. Viele Frauen diskutierten im Internet, ob sie überhaupt feiern gehen sollten – und taten dies dann manchmal voller Misstrauen.
Am Abend des 21. Juni selbst war erneut das Medium "ActuReact" besonders aktiv beim Verbreiten von Meldungen – sowie von Falschinformationen, wie jene von angeblichen Messerangriffen auf Frauen. "Uns ist bewusst, dass die Veröffentlichung solcher Informationen ein Klima der Besorgnis schaffen kann", reagierte der Verantwortliche auf Anfrage von "Le Monde". Aber es handle sich um ein journalistisches Vorgehen, um "möglichst viele Menschen vorzuwarnen".
Bleibt die Frage, ob es sich um objektive Warnungen oder um Panikmache handelte. Im westfranzösischen Angoulême zirkulierten an jenem Abend sogar Meldungen über angebliche Panikszenen mit Toten. Sie waren frei erfunden.
Frei. Erfunden.
Ein paar Tage später hat sich "Die Zeit" mit der Geschichte beschäftigt und schreibt:
In sozialen Medien waren Gerüchte umgegangen: Männer hätten sich in Chatgruppen dazu verabredet, in der Festivalnacht junge Frauen mit Spritzen zu attackieren, in denen Drogen seien oder die mit HIV infiziert seien. Wenn man heute nach diesen Postings sucht, stößt man auf wenige Anhaltspunkte dafür, dass es sie in relevanter Zahl gab. Es finden sich bei Recherchen der ZEIT zwar Dutzende Postings von Profilen mit teils Hunderttausenden Followern, auf denen vor Angriffen gewarnt wird. Aber keine Postings, die Taten ankündigen. Nur ein einziges Bild ist auffindbar, das der französische Social-Media-Kanal actureact.infoteilte. Auf dem Foto hält jemand eine Plastiktüte aus einer Apotheke, dazu der Satz: "Ich habe alles, um am Samstag zuzustechen." Die Redaktion berichtet, sich undercover in Gruppen eingeschleust zu haben, in denen es weitere solcher Aufrufe geben soll. Doch Belege liefert sie nicht. Eine Anfrage der ZEIT bleibt unbeantwortet.
(…) Eine Woche nach dem Festival hat sich kein Verdacht auf eine Straftat erhärtet. Bis jetzt kann Frankreichs Polizei weder konfiszierte Spritzen noch Zeugen oder Videos der Taten präsentieren. In drei Fällen stellten sich die Verletzungen als Mückenstiche heraus. Festgenommene sind aus Mangel an Indizien wieder frei. Immer stärker nährt sich ein anderer Verdacht: Sind die Hautausschläge, die tauben Glieder, die Atemnot, der Schwindel am Ende einer Partynacht womöglich psychische Folgen einer Massenhysterie, angefacht im Internet?
Angefacht auch von den Leitmedien und Organisationen wie "hate aid", möchte man hinzufügen. Und versehen mit dem Tenor: Die "Maskulinisten" sind schuld. Die sind inzwischen Sündenbock für alles nur Denkbare.
Der "Zeit" zufolge hat es ähnliche Massenpaniken in den letzten Jahren immer wieder gegeben:
Auch in Spanien, Australien und der Schweiz wurden Übergriffe mit Spritzen gemeldet. Im Juni desselben Sommers erzählten mehrere Frauen in Berlin, dass ihnen im Nachtclub Berghain eine Spritze injiziert worden sei. (…) Fast alle Fälle haben das gemeinsam: Es werden keine Täter gefasst, es gibt nicht einmal ernsthaft Verdächtige, es fehlen Beweise wie Spritzen, Nadeln oder Substanzen im Blut.
(…) Der Münchner Toxikologe Frank Mußhoff hält es für unwahrscheinlich, dass im Vorbeigehen wirksame Mengen einer Substanz verabreicht werden können. Er arbeitet seit Jahrzehnten als Gutachter für Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte, untersucht Blut-, Urin- und Haarproben. Aber eine ungewollte Injektion? "So einen Fall hatte ich noch nie. Dazu müsste man mehrere Sekunden in die Haut stechen und drücken – das merkt man als Opfer, schlägt um sich oder wendet sich ab", sagt er.
(…) Der neuseeländische Soziologe Robert Bartholomew hat 2024 ein Buch über Phantomangriffe veröffentlicht. Darin beschreibt er, dass es schon in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg in den USA Tausende Berichte von Attacken mit Spritzen gab, vor allem unter jungen Frauen in New York und New Jersey. Weiße Frauen, so ging die Geschichte, würden mit Spritzen ohnmächtig gemacht, entführt und als Sklavinnen verschleppt. Zur "white slavery" kursierten Bücher und Zeitungsartikel. Bis heute gibt es keine Beweise dafür, dass je eine Frau so ein Verbrechen erlitt.
(Der "Zeit"-Artikel "Unbekannte stechen über hundert Frauen mit Spritzen" steht trotzdem weiter online.)
Das Ganze erinnert mich ein wenig an einen Vorfall, den der Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick in seiner Anleitung zum Unglücklichsein schildert. Dabei geht es um eine Massenpanik in den USA in den 1950er-Jahren, die durch Berichte über beschädigte Windschutzscheiben ausgelöst wurde: In Seattle verbreitete sich die Nachricht, dass zahlreiche Autofahrer kleine Löcher, Dellen oder Kratzer in ihren Windschutzscheiben bemerkten. Es entstanden wilde Theorien über die Ursache: von radioaktiven Partikeln über Vandalismus bis hin zu UFOs oder militärischen Experimenten. Die Panik wuchs, weil Menschen begannen, gezielt nach Schäden an ihren Autos zu suchen, und immer mehr "Schäden" meldeten. Zeitungen berichteten ausführlich, was die Hysterie weiter anheizte.
Nach wissenschaftlicher Untersuchung stellte sich heraus, dass die "Schäden" meist normale Gebrauchsspuren waren, die schon immer vorhanden waren – etwa durch Steinschläge oder Abnutzung. Der Unterschied war, dass die Menschen plötzlich darauf achteten, weil die kollektive Aufmerksamkeit darauf gelenkt wurde. Es gab keine mysteriöse Ursache, nur eine durch soziale Dynamiken verstärkte Wahrnehmungsverzerrung.
Watzlawick nutzt dieses Beispiel, um zu zeigen, wie Menschen sich durch ihre eigene Wahrnehmung und kollektive Verstärkung unglücklich machen können. Er illustriert, dass wir oft Probleme "konstruieren", indem wir auf etwas fokussieren und es überbewerten, obwohl es objektiv keine Bedrohung darstellt. Die Panik entstand nicht durch reale Schäden, sondern durch die Erwartung und das Suchen nach Problemen.
Unsere Leitmedien spielen dabei eine große Rolle. Sie verbreiten Vermutungen als Tatsachen. Sie spitzen diese Berichte rhetorisch zu. Und sie korrigieren sie nicht, nachdem sie sich als zweifelhaft herausgestellt haben.
Dass hier schnell die "Maskulinisten" als Schuldige ausgemacht wurden, lässt den Fall als Teil einer sogenannten "moralischen Panik" erkennen. In der Wikipedia heißt es hierüber zutreffend:
Zunächst entstehen Befürchtungen über das Verhalten einer sozialen Gruppe oder Klasse, welche von Teilen der Bevölkerung als Bedrohung der gesellschaftlichen Werte und der moralischen Ordnung eingeordnet wird. Diese Bedrohung wird daraufhin in einer sensationslüsternen Berichterstattung von den Medien rezipiert und unterstützt dadurch das Ausmaß und die Intensität der gesellschaftlichen Befürchtung.
"Die Maskulinisten", und oft sind damit auch wir Männerrechtler gemeint, sind inzwischen schon Schuld an Massenverbrechen, die es nie gegeben hat.
(Auf Bluesky habe ich "hate aid" mit einem Link auf diesen Genderama-Artikel geantwortet; ich rechne nicht einmal mit irgendeiner Reaktion.)
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